Liberalismus in welcher Krise: Ein kleinster Teil Repression, Gesuch!
Manchmal wird vergessen, dass in einer Demokratie nicht nur Demokraten leben. Es gibt Deutsche, die sich einen Diktator wünschen. Sieben Prozent stimmen der Aussage zu: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform.“ Das sind Zahlen der Mitte-Studie von 2023, die einen Anstieg bedeuten, seit 2014 hatten das nämlich nie mehr als vier Prozent der Befragten gesagt.
In der an diesem Donnerstag veröffentlichten Mitte-Studie bejahten wiederum 15 Prozent die Aussage, Deutschland solle von einem Führer regiert werden, der das Land „zum Wohle aller mit starker Hand regiert“. Und in der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2024 waren es mehr als acht Prozent, die dieser Aussage zustimmten. Bei 60 Millionen Wahlberechtigten hätte ein Diktator also – Stand jetzt – fünf bis zwölf Millionen Unterstützer auf seiner Seite.
Man weiß, wer diese Leute sind. Oder genauer: unter welchen Bevölkerungsgruppen die Zustimmung am höchsten ist. Einen Diktator wünschen sich besonders einkommensschwache ostdeutsche Arbeiter, die AfD wählen. Unter AfD-Wählern befürworten 17 Prozent eine Diktatur. So viele stimmten laut der Mitte-Studie den folgenden Aussagen zu: dass eine Diktatur manchmal besser ist; dass Deutschland eine Einparteienherrschaft guttun würde und ein Führer, der mit starker Hand regiert, auch. Das bedeutet nicht, dass es unter westdeutschen wohlhabenden Akademikern, die Grüne wählen, solche Strömungen gar nicht gibt, aber sie sind dort viel seltener.
Wo wenige extrem denken, gibt es immer viele, die zumindest eine Tendenz in diese Richtung haben. Das Allensbach-Institut hat Bürgern die folgende Aussage vorgelegt: „Unser politisches System ist zu schwerfällig. Ständig müssen zwischen den Parteien Kompromisse ausgehandelt werden, was Entscheidungen unnötig in die Länge zieht. Am Ende hat man dann ein Ergebnis, das niemanden zufriedenstellt und das das Land nicht voranbringt.“ Dem stimmten 72 Prozent der AfD-Anhänger zu und 44 Prozent aller Befragten. Die Aussage war kein Aufruf zur Diktatur, aber eine diffuse Sehnsucht nach autoritärer Führung. So was ist also verbreitet.
Man kann alarmierend oder beschwichtigend über diese Zahlen sprechen. Der Meinungsforscher Thomas Petersen vom Allensbach-Institut beschwichtigt lieber. Er sagt, die Deutschen äußerten seit 1948 eine Sehnsucht, alles Mögliche zentral regeln zu lassen, die Lebensmittelpreise, die Mieten, die Meinungen. Petersen sagt: „Die Einstellung der relativen Mehrheit der Deutschen ist: Freiheit ist immer die Freiheit der Gleichgesinnten. Viele haben überhaupt kein Problem mit einer Meinungspolizei.“
Er legt Befragten oft Aussagen vor, die politisch unkorrekt sind. So was wie: „Frauen gehören an den Herd.“ Oder: „Man sollte die Mauer wieder aufbauen.“ Oder: „Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg.“ Die Befragten sollen die Aussagen dann auf drei Stapel sortieren. Erster Stapel: „Das ist auch meine Meinung.“ Zweiter Stapel: „Ist nicht meine Meinung, aber man muss das sagen dürfen.“ Dritter Stapel: „Ist nicht meine Meinung, und es sollte verboten sein, das zu sagen.“ Auf dem dritten Stapel landet bei den Deutschen sehr viel.
Wenn es immer so war, was ist so schlimm daran?
Rund vierzig Prozent wollen gesetzlich verbieten lassen, dass jemand sagt: „Ab einem bestimmten Alter sollten Krankenkassen teure Operationen nicht mehr bezahlen.“ Genauso viele wollen die Aussage gesetzlich verbieten, dass Frauen an den Herd gehören. Wer beklagt, wie illiberal die Deutschen sind, kann also die Gegenfrage bekommen: Wann war das jemals anders? Und: Wenn es schon seit Jahrzehnten so war, was ist heute daran schlimm?

Das kann der Leipziger Sozialpsychologe und Autoritarismusforscher Oliver Decker sagen. Die Kurzfassung lautet: Es gab immer Extremisten, aber heute verteilen sie sich anders, heute wollen sie ihre Ziele verwirklichen. Vor vielen Jahren, zum Beispiel 2006, wählte ein Teil der Rechtsextremen noch CDU oder SPD. Das heißt: Sie hatten nachweislich eine rechtsextreme Gesinnung, aber wahlentscheidend war für sie etwas anderes, die Wirtschaftskompetenz oder die Schulpolitik. Das war 2016, zehn Jahre später, schon anders. Da hatten viele das Vertrauen in die Institutionen verloren, waren gewaltbereiter geworden, aggressiver. Sie wollten einen Umsturz, eine Disruption. „Sind es mehr geworden? – Nein, sie sind nur radikaler“, sagt Decker.
Früher gab es keine Illiberalen, die man ernst nehmen musste. Das waren Spinner, Neonazis, Kommunisten. Der Liberalismus war eine Selbstverständlichkeit. Linke waren Linksliberale, Rechte waren Liberalkonservative, die FDP wollte besonders liberal sein, aber eigentlich waren liberale Werte für alle wichtig. Demokratie und Liberalismus waren Zwillinge, deshalb heißt es im Grundgesetz auch: freiheitlich-demokratische Grundordnung. Niemand hatte etwas anderes im Angebot.

Das hat sich mit den Rechtspopulisten geändert. Wer den illiberalen Umsturz will, kann ihn heute bekommen, er muss nur AfD wählen oder Marine Le Pen oder Geert Wilders oder Donald Trump.
Deneen ist der Stichwortgeber einer postliberalen Ordnung
In Amerika ist jemand Präsident, dessen Gefolgsleute offen den Liberalismus bekämpfen. Und zwar nicht den „liberalism“, was auf Englisch so viel heißt wie „links“, sondern den Liberalismus im Sinne einer freiheitlichen Demokratie. Vizepräsident J. D. Vance liest gerne die Bücher eines Politikprofessors aus Indiana namens Patrick Deneen. Wenn Deneen ein Buch herausbringt, kommt Vance zur Podiumsdiskussion vorbei und macht Werbung. Deneen ist der Stichwortgeber einer autoritären, postliberalen Ordnung. Eines seiner Bücher trägt den Titel: „Warum der Liberalismus gescheitert ist“. Die These lautet: Der Liberalismus löst die Menschen aus ihren natürlichen Bindungen. Alle können sein, was sie wollen, und müssen nicht mehr beachten, was ihre Familien fordern oder ihre Religion oder die guten Sitten oder die Tradition oder das kulturelle Milieu, in dem sie leben. Ein Mann kann zur Frau werden, ein Armer reich, ein Provinzler wird zum Großstädter, ein Ungebildeter Professor. So lautet das liberale Versprechen.
Deneen glaubt nicht daran.

Er sagt: Je liberaler eine Gesellschaft, umso mehr verschwinden die Freiheiten. Man hat die Freiheit, alles zu kaufen, aber kein Geld mehr, das zu tun, weil der eigene Arbeitsplatz jetzt in China ist, der liberalen Weltwirtschaftsordnung wegen. Man kann tun, was die Moral früher verboten hat, aber die soziale Kontrolle, die damit wegfällt, ersetzt der Staat durch neue Regeln. Zum Beispiel wollen in Deutschland viele eine gesetzliche Regelung dafür, dass ein Mann einer Frau auf der Straße nicht hinterherpfeifen darf. Früher hätte man gesagt: Das gehört sich nicht. Aber wen interessiert in der liberalen Gesellschaft, was sich gehört? Also sagt man: Das muss verboten werden. Es ist der klassische Fall einer Sittenfrage, die verstaatlicht wird.
Bei anderen Fragen ist das auch so: Darf ich mein Haus mit Holz heizen? Darf im Essen viel Zucker sein? Darf ich eine Zigarette rauchen? So schwindet die Freiheit, klagt Deneen: „Der liberale Staat erweitert seine Kontrolle auf jeden Lebensbereich, während die Bürger ihre Regierung als weit entfernte und unkontrollierbare Macht erleben.“
Der Liberalismus verringert laut Deneen also nicht nur die Freiheit der Menschen, sondern auch das Vertrauen in die Institutionen eines als übergriffig empfundenen Staates. Es ist – so gesehen – kein Widerspruch, wenn Gegner einer liberalen Ordnung davon reden, mehr Freiheit zu wollen. Das ist die große Paradoxie des Rechtspopulismus. Die Illiberalen predigen Freiheit, fordern Freiheit, versprechen Freiheit. Aber halten sie ihr Versprechen auch?
Decker: „Nicht mehr Freiheiten, sondern weniger“
Decker sagt: „Das ist ein Versprechen, das gerne gehört wird, und deshalb wird es auch gesagt. Was tatsächlich passiert, ist das glatte Gegenteil. Wenn Sie sich in eine Gemeinschaft einfügen, haben Sie nicht mehr Freiheiten, sondern weniger. Das ist eine ausgemachte Sache.“

Wenn Liberale und Illiberale streiten, dann meistens über diese Frage: Was käme nach dem Liberalismus, und wie tyrannisch, düster und undemokratisch würde es? Natürlich geht es vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte im Kern darum: Wie viel Hitler, wie viel Auschwitz wären zu erwarten?
Deneen und Vance reden von einem „Regimewechsel“. Und Deneen gibt zu, dass einem da die Weimarer Republik in den Sinn kommen kann, als Negativbeispiel. Oder ein „populistischer nationalistischer Autoritarismus“. Oder eine „militärische Autokratie“. Das hält Deneen, ganz salopp, für eine Möglichkeit. Deneens Experiment bringt also existenzielle Risiken mit sich.
Wie soll sich eine illiberale Gesellschaft gegen einen Tyrannen wehren?
Deneen beteuert, die Katastrophe nicht zu wollen – er spricht davon, die Errungenschaften des Liberalismus zu erhalten. Das soll beruhigen. Aber er bleibt vage, wie sich die postliberale Gesellschaft gegen einen Tyrannen wehren könnte oder gegen einen Präsidenten, der gerne König wäre.

Donald Trump kokettiert, dass die Amerikaner „vielleicht“ einen Diktator wollten. So subtil ist der rechte Blogger Curtis Yarvin, den Trumps Vizepräsident auch liest, nicht. Yarvin fordert offen eine Diktatur. Amerika könne effektiver regiert werden, wenn ein „Chief Executive Officer“ das Kommando hätte, sagt er. Unternehmen seien auch Monarchien, der Staat solle davon lernen. Die „New York Times“ macht mit Yarvin Diskussionsrunden dazu. Weil das eine Frage ist, die in Amerika gerade viele umtreibt. 74 Prozent der republikanischen Wähler unterstützten im Sommer 2024 den Vorschlag, dass Trump „einen Tag lang“ Diktator sein könnte. Ein ausgesprochener Hang zum Autoritarismus ist in der Trump-Regierung nicht zu leugnen.
In Deutschland, bei den selbst ernannten Trump-Freunden von der AfD, ist das nicht anders. Dort gibt es Leute aus der Neuen Rechten, deren Vordenker Alain de Benoist den Liberalismus als „Hauptfeind“ ausgemacht hatte. Einer davon ist Benedikt Kaiser, Mitarbeiter in der AfD-Bundestagsfraktion und Stratege der Neuen Rechten. Ein anderer, der auch so denkt, ist Maximilian Krah, AfD-Abgeordneter im Bundestag.
Ausgerechnet Antiliberale versprechen Freiheit
Krah ist ein Antiliberaler, aber er verspricht dem Normalbürger die Befreiung. Wortwörtlich: „Ich verspreche Freiheit!“, sagt Krah der F.A.S. Was aber würde er dem Bürger liefern, wenn er an der Macht wäre? „Ich befreie ihn von der staatlichen Bevormundung, aber ich übergebe ihn natürlich den nicht staatlichen, gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen.“ Also allen Sitten der Gemeinschaft aus Familie, Kirche, Ethnie, Tradition und Kultur. Das ist, für sich genommen, kein Untergang der Demokratie, eher eine Rückkehr in die Fünfzigerjahre, die manche als heile Welt verklären, andere als Spießbürgertum verunglimpfen.

Benedikt Kaiser, der Neurechte, argumentiert in dieser Frage auf derselben Linie: „Ein Staat, der nicht liberal verfasst ist, kann dennoch freiheitlich sein.“ Die Freiheit ist dann nur anders definiert. Kaiser liest dazu den Nationalbolschewisten Ernst Niekisch. Der versteht unter Freiheit etwas anderes als Liberale, nämlich nicht die Entfaltung des Individuums nach seinem Gusto, sondern die Pflicht des Individuums, sich so zu entfalten, wie es der Gemeinschaft dient. Also die Unterordnung der individuellen Bedürfnisse unter die Bedürfnisse des Kollektivs. Die Leute sollen sich gefälligst einreihen. Das nennt Niekisch: „wirklich individuelle Freiheit“. Und Kaiser nennt es: „Freiheit als schöpferischer und gebundener Gestaltungsraum des Einzelnen“. So werben rechtsextreme Vordenker für eine illiberale Gemeinschaft. Sie werde schöner als das, was wir heute haben, sagen sie.
Drei Argumente sprechen gegen diese Weichzeichnung. Erstens: In einer illiberalen Demokratie gibt es keinen Minderheitenschutz. Die Mehrheit diktiert. Wer in irgendeiner Weise zu einer Minderheit gehört, und das gilt für fast jeden, wird entrechtet werden. Besonders wenn er jemand ist, der politisch abweicht. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst spricht deshalb eine Warnung aus: „Autoritäre Systeme sind immer darauf angewiesen, die Freiheit derer, die das System ablehnen, zu unterdrücken. Auch wenn sie, wie manche sich das vorstellen, wohlmeinende paternalistische Herrschaftsordnungen sind.“
Die Wütenden brauchen ein Feindbild
Zweitens: Wer aufhört, sich als Individuum frei zu entfalten, und sich lieber einer Gemeinschaft unterwirft, bekommt Aggressionen. Das ist ein gut erforschtes, psychologisches Phänomen, das jeder kennt. In der Pandemie war es der Zorn der Geimpften auf die Ungeimpften, die sich nicht einfügen wollten. Genauso ist es der Zorn auf den, der im Stau auf dem Standstreifen überholt, während andere sich brav einreihen. Wo immer der Einzelne etwas aufgibt, weil er gehorcht und sich unterwirft, gibt es eine Wut, die ein Ventil sucht. Der Mob sucht einen Prügelknaben. Die illiberale Gemeinschaft produziert immer einen Feind. Oder genauer: Ein Politiker, der einen Feind präsentiert, wird jubelnd unterstützt. Die Unterworfenen wollen das, sie brauchen das.

Decker sagt: „Deshalb lautet das Versprechen: Es wird jemanden geben, der nicht mehr durch staatliche Autorität geschützt ist vor den Aggressionen.“ Irgendein Opfer. Der LGBTQ-Aktivist zum Beispiel. Der Volksverräter. Der Genderideologe. Der Lügenjournalist. Der Zersetzer. Der Asylbewerber. In dunkler Vergangenheit: der Jude. Das ist in einer Gemeinschaft ohne Minderheitenschutz keine Kleinigkeit, die Aggression wird nicht moderiert. Ohne liberale Werte gibt es keinen Schutz. Decker: „Es ist eine massive Bedrohung.“
Drittens: Wer zur Abwicklung des liberalen Staates gewählt wird, hat eine Mission. Nicht nur den Einzelnen dem Gruppenzwang der Gemeinschaft zu überlassen, sondern die restlichen Liberalen staatlich zu bekämpfen. Alles abzuwickeln, die ganze, wie es oft heißt, woke Ökodiktatur der liberalen Volksverräter. Der neue AfD-Staat wäre also kein Nachtwächter, sondern übergriffig und repressiv. Die Zurückdrängung würde nicht den Sitten, sondern dem Staat überlassen. Alles das würde also geschehen, was Kaiser und Krah dem liberalen Staat nachsagen. Die freiheitsliebenden Bürger hätten die Repression gewählt, die sie angeblich verabscheuen. Auch künftige Wahlen würden daran nichts mehr ändern. Sie fänden statt, während jede Opposition unterdrückt würde, wie in Russland, das in solchen Kreisen hohes Ansehen genießt.
Ist der Liberalismus besser als sein Ruf?
Antiliberale sagen: Das passiert im Liberalismus genauso. Geht es nach ihnen, gibt es im Liberalismus kaum echte Freiheit. Der Staat zwingt von morgens bis abends, bei der Kindererziehung, in der Schule, beim Essen, beim Reden, beim Denken. Erst zerstört der Liberalismus die sittliche Ordnung, dann erzwingt er eine neue. Die Frage ist, ob das stimmt, ganz objektiv. Der Philosoph Forst wirft den Antiliberalen vor, maßlos zu übertreiben. Nie hatte der Liberalismus vor, den Menschen ihre kulturelle, ethnische oder religiöse Gemeinschaft zu nehmen. „Der Liberalismus lässt diesen Communitys viel Raum“, sagt Forst.
Im Liberalismus ist niemand zu Einsamkeit, Egoismus und Ungebundenheit gezwungen. Er kann sich ausleben, besonders wenn er gegen die Mehrheit steht. Jeder kann in Gemeinschaften aufgehen, wie er möchte. Kann dort sittliche Verbundenheit spüren. Manche, wie Benedikt Kaiser und Maximilian Krah, haben sogar eine antiliberale Community für sich gefunden und können frei für ihre Lebensmodelle werben. Der Philosoph Forst sagt: „Bürgerliche und politische Freiheitsrechte ermöglichen Lebensentwürfe unterschiedlichster Art, deshalb müssen sie geschützt werden.“ Früher wäre so ein Satz eine Selbstverständlichkeit gewesen.
Source: faz.net