Liberale Demokratie: Nur Politik dieser Mitte schützt uns vor dieser Tyrannei dieser Mehrheit

Ob in Polen, Ungarn oder den USA: Überall machen sich Rechtsaußen daran, unabhängige Gerichte zu beschneiden und den Verfassungsstaat auszuhöhlen. In diesem Gastbeitrag warnt Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) eindringlich davor, die Rechte des Einzelnen dem freien Spiel der Mehrheitsmeinung zu überlassen.

Eine
der ältesten Anregungen zu einer Politik der Mitte findet sich bei Aristoteles.
Tugend, so lehrte der antike Philosoph, sei die Mitte zwischen zwei Extremen.
Überträgt man den Gedanken auf die Politik, so bildet die Mitte den Punkt, der
von beiden extremen Flügeln – links wie rechts – zugleich am weitesten entfernt
ist. Eine Politik der Mitte darf sich allerdings nicht von diesen Extremen
definieren lassen, sondern muss ihren Abstand konzeptionell aus sich selbst
heraus positiv begründen können.

Wie
man diesen Abstand hält, zeigt sich schnell, wenn man extreme
Positionen der Linken wie der Rechten in der Politik betrachtet: Beide
definieren den Menschen als Teil einer Gruppe – sei es Rasse, Klasse oder
Nation. Beide betrachten die Welt als ein Schlachtfeld, auf dem diese Gruppen
gegeneinander kämpfen. Eine Politik der Mitte setzt dagegen auf den Eigenwert
eines jeden einzelnen Menschen und statt auf Kampf setzt sie auf freiwillige
Kooperation.

Das Recht setzt selbst der Mehrheit Grenzen

Aus
diesen Fixsternen einer Politik der Mitte – Eigenwert des
Menschen und Kooperation statt Kampf – resultiert ein klares Verständnis der
großen Begriffe der Politik: Um den Einzelnen vor Tyrannei zu
bewahren, macht die Demokratie ihn zum Teilhaber der Macht im Staat. Um ihn
auch vor einer Tyrannei der Mehrheit zu bewahren, räumt die Politik der Mitte
dem einzelnen Menschen eine Sphäre des rechtlichen Schutzes ein, sogar gegen eine
demokratische Mehrheit. So öffnet sich ein Raum individueller Freiheit und
der Kooperation – auf Märkten, in Kultur und Zivilgesellschaft. So
entstehen auch die Voraussetzungen dafür, dass im demokratischen Wettbewerb aus
der Meinung einer Minderheit eine neue Mehrheit werden kann.

Das
operative Konzept dazu nennen wir Grund- oder Menschenrechte. Die Verbindung
von Demokratie und Grundrechten nennen wir heute liberale Demokratie. Sie ist
das verfassungsrechtliche Leitbild der politischen Mitte. Sie ist ohne das
Rechtsstaatsprinzip nicht denkbar. Mitte und Rechtsstaat sind zwei Seiten derselben Medaille.

Trennt
man Grundrechte von der Demokratie und versteht letztere nicht als Teilhabe des
Einzelnen an der Macht, sondern als die absolute Macht der absoluten Mehrheit,
entsteht etwas, das der Journalist Fareed Zakaria in kritischer Distanz kurz
nach der Jahrtausendwende einmal „illiberale Demokratie“ genannt hat. Sie wird
zunehmend das Leitbild der politischen Ränder. Für die politische Rechte hat
Viktor Orbán ausdrücklich bekannt, eine illiberale Demokratie errichten zu
wollen – eine Form der Herrschaft, die der Mehrheit alles erlaubt und in der
der Einzelne letztlich kaum etwas zählt. Deshalb wendet sich illiberale
Demokratie auch immer gegen das Prinzip des Rechtsstaates. Denn das Recht setzt
selbst der Mehrheit Grenzen zum Schutze des Individuums. Will aber die Mehrheit
unbeschränkt herrschen, betrachtet sie das Recht als Hindernis.

Der Jurist als Schiedsrichter

Dass
eine bloße Herrschaft der Mehrheit sehr gefährlich sein kann, hat bereits der
französische Historiker Alexis de Tocqueville herausgearbeitet. Er bereiste zu
Beginn der Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts die USA. Sein Ziel war es, die
Praxis der demokratischen Verfassung der USA und ihre Wirkung auf die
Gesellschaft zu studieren. Seine Beobachtungen und Analysen legte er in seinem
Werk Über die Demokratie in Amerika dar. Es ist ein Klassiker der politischen
Literatur.

In
diesem Werk gibt es ein Kapitel, dessen Titel bis heute eine ikonische
Formulierung ist: die „Tyrannei der Mehrheit“. Tocqueville erklärt sie so:

„Sobald
ich daher sehe, dass man das Recht und die Möglichkeit, schlechthin alles zu
tun, irgendeiner Macht zugesteht, man mag sie nun Volk oder König, Demokratie
oder Aristokratie nennen, man mag sie in einer Monarchie oder einer Republik
ausüben, sobald ich es sehe, sage ich: Das ist der Keim zur Tyrannei […].“

Tocqueville
unterstrich, dass es Grenzen für jede Form der Ausübung von Herrschaft geben
müsse. Diese Grenzen entstammten dem Prinzip der Gerechtigkeit. Kein Herrscher
und kein Volk dürften dagegen verstoßen.