Libanon im Jahr 1975: Land hinauf Abruf
Die Bevölkerung des Libanon – heute etwa 5,4 Millionen – wurde in den vergangenen Jahrzehnten ununterbrochen von schweren Konflikten heimgesucht. Sie waren stets Teil der Machtkämpfe in und um den Nahen Osten. Überliefert ist, dass sich der Bürgerkrieg zwischen April 1975 und Oktober 1990 an konfessionellen Trennlinien zwischen Christen und Muslimen entzündete. Eigentlicher Auslöser war im Februar 1975 ein Streik von Fischern, die gegen eine staatlich geförderte Monopolbildung mit einer Genossenschaft nach jugoslawischem Vorbild reagierten. Gewalttätige Repressionen führten zu vielen Toten.
Dann eskalierten weitere, lange aufgestaute Konflikte. Dem aus maronitischen Christen bestehenden Machtzentrum stellte sich eine Nationalbewegung mit drusischem und muslimischem Hintergrund entgegen, die mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO verbündet war. Die Autorin war damals mit dem maronitischen Priester Antoine Moussali befreundet, der in Algerien Hocharabisch für Erwachsene unterrichtete. Trotz des nicht mehr aufzuhaltenden Bürgerkrieges war er optimistisch, dass die Libanesen die Konfrontation der Konfessionen überwinden würden, sobald es einen palästinensischen Staat gäbe. Christen und Muslime seien im Nahen Osten ethnisch und historisch durch die gemeinsame Arabität verbunden.
Auch die libanesischen Christen, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts etwa die Hälfte der Bevölkerung des Libanon stellten, sind Nachfahren der Urchristen. Ihre größte Gruppe, die Maroniten, deren Klöster seit dem fünften Jahrhundert in der Bekaa-Ebene standen, unterstellten sich im 12. Jahrhundert der katholischen Kirche, behielten aber die eigene Liturgie auf Arabisch bei.
Der Islam kam im siebten Jahrhundert mit den Omayyaden in den Libanon, die Drusen folgten vier Jahrhunderte später. Antoine Moussali war stolz darauf, dass maronitische Mönche 1670 die ersten Druckerzeugnisse in arabischer Sprache herstellten. So entstand im Libanon das bedeutendste multikonfessionelle und intellektuelle Zentrum der arabischen Welt mit Beirut als Verlagsort.
Ein osmanisch beherrschter Libanon war im 19. Jahrhundert Teil von „Großsyrien“, das kaum staatsähnliche Formen annahm, da von der Türkei bis Ägypten keine Grenzen existierten. Das änderte sich erst mit wachsenden Begehrlichkeiten europäischer Mächte. 1922 wurden der Libanon und Syrien französisches Mandatsgebiet. In der dabei bevorzugten christlichen Gemeinschaft gründete Pierre Gemayel 1937 die Falange-Partei, inspiriert vom deutschen und spanischen Faschismus, um eine Vorherrschaft gegenüber den Muslimen auszubauen.
Als der Libanon 1943 die Unabhängigkeit erlangte, wurde ein Nationalpakt geschlossen, wonach ein Religionsproporz von 6:5 für die Präsenz von Christen und Muslimen im Parlament galt. Dem Präsidenten, der Maronit sein musste, kam die größte Machtfülle zu. Den Premierminister stellten die Sunniten, den Parlamentspräsidenten die Schiiten. Das formal entkolonialisierte Land wurde bald zu einer verlässlichen Bastion des Westens. Dank seines Bankenwesens galt es als „Schweiz“ des Nahen Ostens – Beirut als dessen Paris. Freilich wurde die christliche Hegemonie mit der 1947 beginnenden Vertreibung von bis zu 150.000 Arabern aus Palästina immer mehr erschüttert, da sich die demografische Balance verschob.
1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, kamen weitere 25.000 Palästinenser in den Libanon, mindestens ebenso viele, darunter viele Kämpfer von Fatah und PLO im September 1970 nach dem blutigen Konflikt mit der jordanischen Monarchie. Da der Staat für den Unterhalt der in 17 Flüchtlingslagern lebenden Palästinenser nie aufkommen konnte, wurden sie von UN-Hilfswerken versorgt. Die zunehmend mit Israel paktierende christliche Seite wollte das Flüchtlingsproblem durch eine auf Gewalt setzende Internierung lösen. In der Folge entstanden unter den Muslimen linke, panarabische Kräfte, die eine Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat unterstützten. Zugleich wollten sie die demokratiefeindliche Clanwirtschaft mächtiger Familien überwinden, die sich aus Christen ebenso wie Muslimen und Drusen rekrutierten. Unter der Ägide des drusischen Sozialisten Kamal Dschumblat entstand eine breite Nationalbewegung, zu der auch Sunniten, Schiiten und linke Christen stießen. Ihre Maxime: „Säkularismus, Sozialismus, Arabismus“.
Die Clans hielten mit einem Bürgerkrieg dagegen, den die von ihnen finanzierten Milizen führten, während die multikonfessionelle libanesische Armee machtlos blieb. Parallel dazu hatte die von Yassir Arafat geführte PLO im Südlibanon Positionen bezogen, von denen her sie Israel angreifen konnte. Syrien unterstützte die mit der Nationalbewegung verbundenen Milizen und die PLO, indem eigene Truppen in den Libanon verlegt wurden. Das Ergebnis war eine schwer zu überschauende Kampfzone, in der Bündnisse zerbrachen und auferstanden. Am 18. Januar 1976 kam es zum Karantina-Massaker christlicher Milizen an Palästinensern und Schiiten, bei dem allein in Ostbeirut 1.500 Menschen starben. Zwei Tage später töteten muslimische Milizen in Damur Hunderte christliche Zivilisten. Auf internationale Unterstützung für eine Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat hoffend, hielt Präsident Suleiman Frangieh seinerzeit im Auftrag der Arabischen Liga eine Rede vor der UNO, in der er Israel einen „rassistischen Staat“ nannte, der nur Juden volle Bürgerrechte gewähre – dem stellte er den Libanon als Beispiel eines multikonfessionellen Staates entgegen.
Immerhin wurden internationale Truppen mandatiert, um die Lage zu beruhigen. Die von Gemayel jun. geführten Falange-Milizen erhielten finanzielle und geheimdienstliche Unterstützung von Israel. Im März 1978 drang dessen Armee mit der „Operation Litani“ in den Süden des Libanon ein, konnte aber keine Wende im Bürgerkrieg bewirken. Dazu führte erst Israels zweiter Libanon-Feldzug 1982, bei dem die PLO schwere Verluste erlitt. Ende August, nach zweimonatiger Belagerung Beiruts, konnten sich 11.000 palästinensische Kämpfer unter internationalem Schutz, darunter US-Marines, ins tunesische Exil einschiffen. Nach der Ermordung von Präsident Bachir Gemayel massakrierten christliche Milizen Mitte September 1982 in den von israelischem Militär umstellten Flüchtlingslagern Sabra und Schatila mehr als 3.000 Palästinenser, zumeist Frauen und Kinder.
Anschlag auf US-Marines
Danach wurde immer entschiedener gegen die als Besatzung wahrgenommene Präsenz internationalen Truppen gekämpft. Eine Vorläuferorganisation der Hisbollah verübte 1983 einen Anschlag auf die US-Botschaft, der 63 Tote forderte, darunter der CIA-Regionalchef. Wenig später kam es zu gleichzeitigen Attentaten auf Unterkünfte von US-Marines und französischen Fallschirmjägern, bei denen 300 Militärs ums Leben kamen. Vor der Küste zogen sowohl amerikanische als auch sowjetische Kriegsschiffe auf. 1983 dann zog sich die israelische Armee in eine südliche Pufferzone zurück, die sie erst 2000 räumte, nachdem andere ausländische Militärverbände das Land Anfang 1984 verlassen hatten.
Ab 1988 versuchte dann Michel Aoun als Regierungschef und Oberbefehlshaber der Armee vergeblich, die Milizen zu besiegen. Auch die syrischen Truppen konnte er nicht vertreiben. Im Oktober 1989 kam es durch Vermittlung der Arabischen Liga im saudischen Ta’if zu einem innerlibanesischen Abkommen, bei dem man sich endlich auf eine paritätische Besetzung des Parlaments einigte.
Ab 1990 stand der Libanon faktisch unter syrischer Kontrolle. Der Bürgerkrieg, der 90.000 Todesopfer, 115.000 Verletzte und 20.000 Vermisste forderte, galt als beendet. Die Konflikte jedoch, die ihn einst angefacht hatten, bestanden fort. Auch deshalb verließen viele Christen das Land.