Leo XIV. besucht Libanon: Sie will dem Papst keine Blumensträuße mit Bindebogen spielen

Die Straße ist von Panzerketten geschunden, gesäumt von zertrümmerten Häusern. Chadi Sayah steuert seinen Wagen eine gewundene Piste hinauf zur nächsten Ruine. Er schüttelt den Kopf, als er über die Kriegstrümmer steigt, und sagt: „Wir hatten nichts damit zu tun.“

Im Hintergrund erstreckt sich eine idyllische Hügellandschaft, die in warmes Herbstsonnenlicht getaucht ist. Zur Rechten ragen Antennen in die Höhe. Ein israelischer Militärstützpunkt. Zur Linken zieht sich ein Betonwall durch das Gelände, an den sich eine israelische Panzerstellung schmiegt. Vom Himmel dringt das Sirren einer israelischen Drohne hinab. „Sie sehen alles“, sagt Chadi Sayah, ein bulliger Mann, der robuste Wortwahl nicht scheut.

Er ist der Bürgermeister von Alma al-Shaab, eines kleinen libanesischen und christlichen Ortes direkt an der Grenze. Es war ein malerischer Ort, mit engen Gassen, traditionellen Steinhäusern und Zitronenbäumen in den Vorgärten. Jetzt ist es ein Frontdorf, gezeichnet von dem Krieg, der hier im vergangenen Jahr tobte. Ein Dorf, das zwischen die Fronten geraten ist. Immer wieder hält Sayah an, weist auf zerstörte Häuser und fragt: „Warum nur haben die das bombardiert?“

Die Hizbullah-Kämpfer kamen wie Geister

Als die Schiitenorganisation Hizbullah am 8. Oktober 2023 eine Front an der Grenze eröffnete, um die palästinensische Hamas im Gazastreifen zu unterstützen, hatten die christlichen Bewohner von Alma al-Shaab nicht mitzureden. Sie harrten zunächst aus, als sich die irantreue Miliz und das Militär des Nachbarlandes einen mörderischen Schlagabtausch lieferten.

Sie konnten nicht verhindern, dass Hizbullah-Kämpfer wie Geister ins Dorf kamen und wieder verschwanden. Dann mussten die Leute aus Alma al-Shaab fliehen, als das israelische Militär im vergangenen Herbst eine Groß­offensive durchführte und Soldaten ins Dorf einrückten. Häuser wurden von Luftangriffen zerschmettert, von Granaten getroffen, von Planierraupen niedergewalzt, von israe­lischen Soldaten geplündert. „Wir haben den Preis bezahlt“, sagt Sayah.

Seit etwa einem Jahr herrscht offiziell ein Waffenstillstand. Aber israelische Luft­angriffe im Grenzgebiet gehören zum Alltag. Die Hizbullah ist durch den jüngsten Krieg massiv geschwächt worden, ihr Raketenarsenal wurde stark dezimiert, die oberste Führung fast vollständig eliminiert. Aber sie ist nicht geschlagen.

Die israelische Regierung will die Schiiten­miliz entwaffnet sehen. Die libanesische Armee soll diese Aufgabe übernehmen, aber der libanesische Präsident Joseph Aoun schreckt davor zurück, eine Konfrontation mit diesem für die Streitkräfte noch immer zu kampfstarken Gegner zu riskieren.

Exodus während des Krieges

Die mörderische Hängepartie zehrt an den Nerven, gerade bei den Menschen in der Kampfzone. Die Sorge, es könnte zu einem neuen, großen Waffengang kommen, ist groß. Der Krieg habe auch ei­gentlich nie aufgehört, heißt es immer wieder in den Dörfern. In Alma al-Shaab fühlen sich die Menschen besonders bedrängt. Sie leben im Stammland der Hizbullah, umringt von schiitischen Dörfern.

Wie unter dem Brennglas offenbart sich hier die Angst der libanesischen Christen um ihre hervorgehobene Stellung im Land und um ihren Lebensstil. Sie fürchten die Dominanz der Hizbullah und schauen argwöhnisch auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit, die immer weiter wächst. Viele junge Christen fliehen vor der Perspektivlosigkeit in ihrer von Korruption zersetzten Heimat ins Ausland – weil sie die nötige Bildung dafür haben.

Alma al-Shaab hat sich vom Exodus während des Krieges noch nicht erholt. Viele der vertriebenen Dorfbewohner schrecken wegen der angespannten Lage weiterhin davor zurück zurückzukehren. Diejenigen, die wieder da sind, fühlen sich im Stich gelassen.

Der Wiederaufbau des Ortes geht nur schleppend voran. Es fehlt an Geld und Unterstützung. „Was hier wieder aufgebaut wurde, haben die Leute allein geleistet“, sagt Bürgermeister Sayah. Er spricht davon, als sei das ein Akt christlichen Patriotismus. Sein Behauptungswille ist nicht gebrochen. „Wir sind hier, wir tun alles, um zu bleiben.“

„Wir mögen sie nicht, sie mögen uns nicht“

Sogar der Priester, der die Bauarbeiten an einer kleinen Kirche am Ortseingang beaufsichtigt, ist missmutig. Auch das Gotteshaus wurde während des Krieges beschädigt. Das Geld für den Wiederaufbau kommt von einem reichen Gönner aus dem Dorf, der am Golf lebt. „Mit euch kommen die schlechten Nachrichten“, sagt der Priester, den Blick weiter auf das Baugerüst gerichtet. „Ihr macht eure Ar­beit, und wenn ihr weg seid, wird bombardiert.“ Interviews will der Geistliche nicht geben. Aus Deutschland komme schließlich auch keine Hilfe, sagt er zur Begründung.

Etwas die Straße hinunter sitzen Polizisten und ein Mitarbeiter der Ver­waltung vor einem Imbiss beim Mittagessen. Sie berichten über Leichenteile von Hizbullah-Kämpfern, die in den Trümmern gefunden wurden. Von ungedeckten Schecks, die Dorfbewohner von der Schiitenorganisation als Entschädigung für ihre zerstörten Häuser bekommen haben.

„Sie sind offensichtlich in Geldnot“, sagt einer aus der Runde. Er schimpft auf die Hizbullah, die den Krieg vom Zaun gebrochen habe. „Wer soll sonst schuld sein?“, fragt er verächtlich. Das Mitleid für die schiitische Anhängerschaft hält sich am Tisch in Grenzen. „Wir mögen sie nicht, sie mögen uns nicht“, sagt einer der Männer schulterzuckend.

Der Frust in Alma al-Shaab richtet sich nicht nur gegen die Rücksichtslosigkeit der Kriegsparteien oder die Tatenarmut des bankrotten, dysfunktionalen libane­sischen Staates. Die Dorfbewohner fühlen sich auch von der Kirche vernach­lässigt. An seinem christlichen Glauben lässt Bürgermeister Sayah keine Zweifel aufkommen: Auf seinem rechten Unterarm hat er sich das Konterfei von St. Charbel tätowieren lassen, eines in den Christenregionen Libanons allgegenwärtigen Schutzheiligen.

Aber ebenso wenig hält er mit seiner Wut über die maroni­tische Kirche, der die Mehrheit der libanesischen Christen angehört, hinter dem Berg. „Sie hat nichts für uns getan“, schimpft er. „Wenn du als Vater fünf Kinder hast und eines ist krank, dann schaust du doch nach dem Kranken.“ Aber die Kirche habe den durch den Krieg vertriebenen Glaubensbrüdern nicht dabei geholfen, anderswo Unterkünfte zu finden. Stattdessen hätten kirchliche Schulen den Eltern die vollen Gebühren für ihre Kinder abgeknöpft und sie auch noch gezwungen, Schuluniformen anzuschaffen.

Die Gegend und die Menschen nicht vergessen

Die Aussicht auf den Besuch von Papst Leo XIV. entfacht daher keine Jubelstürme in Alma al-Shaab. Der Bürgermeister erwartet keine Wunder. Aber er hätte gern, dass der Papst durch einen Besuch in Alma al-Shaab ein Schlaglicht auf das Schicksal seiner Leute wirft. Darum hat er einen offenen Brief geschrieben. „Wir stehen hier am äußersten Rand des Landes und halten trotz Zerstörung und Vernachlässigung an unseren Häusern und unserer Geschichte fest“, heißt es darin. „Ihr Besuch – auch wenn er nur kurz sein sollte – wäre für uns eine Quelle großer Kraft, ein Zeichen dafür, dass die Kirche sich ihrer Kinder an den Grenzen erinnert, und eine Botschaft an die Welt, dass diese Gegenden und ihre Menschen nicht vergessen sind.“

Den „tiefen Respekt“ und die „Kindesliebe“ gegenüber dem Heiligen Vater, die der Bürgermeister zum Ausdruck bringt, teilen nicht alle im Dorf. Eine Rentnerin, die hier „die Rose von Alma al-Shaab“ genannt wird, bindet dem Papst keine Blumensträuße. „Was habe ich denn davon, wenn ich ihm die Hand küsse und er mich dann segnet?“, grantelt sie. „Ein Jahr habe ich hier im Krieg gelebt. Das wusste der Vatikan doch.“

Die Frau hat andere Sorgen. Ihr Haus ist demoliert worden. Die riesigen Löcher, die in die Außenwände gerissen wurden, hat sie flicken lassen. Der graue Putz wurde noch nicht überstrichen. Den Handwerker hat die Frau sicherheits­halber angewiesen, von sich aus zu kommen, sollte der nächste Kriegssturm über ihre Heimat hinwegfegen. „Wir leben jeden Tag in Angst“, sagt sie.

Manche Christen, die in sicherer Entfernung von der Kampfzone leben, wünschen sich einen neuen Waffengang: Israel solle der Hizbullah endgültig den Garaus machen. Sayah fährt richtig aus der Haut, wenn er darauf angesprochen wird. „Das ist doch krank“, schimpft er und schlägt mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. „Kommt doch her und helft uns, ihr Mistkerle!“ Er sei nicht glücklich, wenn die schiitischen Nachbardörfer zerstört würden, sagt der Bürgermeister. Er muss sich diplomatischer äußern. Er muss weiter friedlich mit der Hizbullah und ihrer Klientel zusammenleben.

Wie eine Trutzburg: In Bcharré wird die Wehrhaftigkeit Jesu gepriesen.
Wie eine Trutzburg: In Bcharré wird die Wehrhaftigkeit Jesu gepriesen.Picture Alliance

Nur gut vier Stunden Autofahrt nach Norden scheinen solche Zwänge in unendlich weiter Ferne. Dort liegt die Kleinstadt Bcharré wie eine Trutzburg im Schutz einer imposanten Berglandschaft. Hier leben viele der Christen, über die sich Bürgermeister Sayah so aufregt. Leute wie Pierre Germanos scheinen aus einer anderen Welt zu stammen.

Ger­manos ist ein so gastfreundlicher wie redseliger und tiefgläubiger Fremdenführer. Er blickt versonnen auf die steilen Hänge des Qadisha-Tals, eine tiefe Schlucht, die sich kilometerweit durch den Norden Libanons zieht. Das „Heilige Tal“ ist für ihn ein Ort der inneren Einkehr und eine Bastion der Christen zugleich.

Germanos berichtet von der Gegenwart Jesu, die er hier spüre. Von alten Klöstern, von Kirchen, die in den Felsen gehauen wurden. Von den Höhlen, in denen die Maroniten in ferner Vergangenheit Schutz vor feindseligen islamischen Herrschern fanden. „Nur Adler konnten sie erreichen“, sagt Germanos. Keine Armee habe diese Gegend erobern können. „Die Christen werden hier weiterleben wie die Heiligen in den Höhlen.“

Germanos kommt schnell auf die Bedrohung der Gegenwart zu sprechen: Zwischen den Heiligen und der Hizbullah liegen nur Sekunden. „Sie sind gegen die Präsenz der Christen“, sagt Germanos über die schiitischen Islamisten. Dass die Hizbullah und ihre iranischen Förderer durch das israelische Militär geschwächt und gedemütigt worden sind, vergleicht er mit einem Wunder. Ebenso den Abzug der syrischen Besatzer 2005.

Er sieht sich selbst in der Tradition seiner Ahnen. Die Vorfahren hätten Schutz im Qadisha-Tal vor den Mamluken oder Osmanen gesucht, erklärt Germanos. „Ich habe dieselbe Erfahrung gemacht.“ Germanos war vor dem brutalen Militärgeheimdienst der syrischen Besatzer ins Heilige Tal geflüchtet.

Der christliche Behauptungswille zeigt sich in Bcharré in einer be­sonders kämpferischen Form. Hier wird die Wehrhaftigkeit Jesu gepriesen. „Wir sind bereit, uns selbst zu verteidigen“, sagt Vater Charbel Makh­louf, der Priester der St.-Saba-Kirche. Während des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 hätten auch die Mönche Waffen getragen. Eines hat er mit dem Bürger­meister des südlibanesischen Alma al-Shaab gemein: Er wünscht sich, dass der Besuch des Papstes die Christen in seiner Heimat ermutigt zu bleiben. Er selbst hat sich schon in Gefahr gebracht, als er sich nach dem Bürgerkrieg in seinen Predigten den syrischen Besatzern entgegenstellte.

„Der Vater ist ein Held“, sagt Germanos. Seine Erzählung über die Christen von Bcharré ist eine Geschichte des Widerstandes. „Die Christen sind die Bastion der Freiheit in diesem Land“, sagt er. Sie hätten sich gewehrt, als palästinen­sische Freischärler in den Siebzigerjahren Libanon zu ihrer Basis für Angriffe auf Israel machen wollten. Sie hätten außerdem Widerstand gegen die Präsenz der Syrer geleistet. Sie stellten sich jetzt den Versuchen Irans und der Hizbullah entgegen, Libanon nach ihren islamischen Vorstellungen umzuformen.

Germanos ist Mitglied der Forces Libanaises, einer rechtsgerichteten christlichen Partei, die sich als Speerspitze des Anti-Hizbullah-Lagers versteht. Bcharré ist auch der Heimatort ihres Anführers Samir Geagea, dessen Porträts überall in der Kleinstadt hängen. Geagea war zu Zeiten des liba­nesischen Bürgerkrieges ein mächtiger Warlord, berüchtigt für brutale Mordanschläge. Noch immer hat er Männer unter Waffen.

Germanos kämpfte während des Bürgerkrieges in seiner Miliz. Er hat alte Bilder mit seinem Mobiltelefon abfotografiert, auf denen er mit Oberlippenbartflaum hinter einem schweren Maschinengewehr sitzt oder vor einem Artilleriegeschütz steht.

Ein korruptes Machtkartell

Seine Mutter Sophie Nasr verehrt den hageren Geagea als Beschützer der Christen und als Freund der Familie. „Ich liebe ihn von ganzem Herzen“, sagt die alte Frau, während sie in der kleinen, ungeheizten Küche der Germanos-Familie ei­nen Petersiliensalat für das Abendessen zubereitet. Als ihr verstorbener Mann wegen einer Bürgerkriegsverletzung für Monate im Krankenhaus lag, habe Geagea ihn jeden Tag besucht, erzählt sie. „Er hat sein Leben dafür geopfert, unser Land zu verteidigen.“

Elf Jahre saß Geagea wegen Kriegsverbrechen aus der Zeit des Bürgerkrieges im Gefängnis. Sophie Nasr sagt: „Er saß für Libanon im Gefängnis.“ Kritiker sehen Geagea nicht als Retter, sondern als Paten eines korrupten Machtkartells, das Libanon hemmungslos ausplündert. Als einen jener Warlords, die nach dem Bürgerkrieg die Politik ka­perten und das Land herunterwirtschafteten.

Im Zustand des Landes sieht Vater Charbel Makhlouf das größte Problem für seine Christen. „Junge Universitätsabgänger finden keine Jobs und gehen ins Ausland“, beklagt er. Die Runde junger Leute in einem kleinen Café nahe der Kirche gibt ihm recht. „Wenn ich etwas Gutes im Ausland finde, dann gehe ich, auch wenn ich eigentlich nicht will“, sagt einer aus der Vierergruppe, der im familieneigenen Restaurant arbeitet. Seine Tischnachbarin stimmt ihm stumm nickend zu. „Für mich ist die Gegend hier ein Zufluchtsort vor der Misere des Landes“, erklärt sie.

Pierre Germanos bietet zum Abschluss des Besuches noch einen Spaziergang bei den „Zedern des Herren“ an. Sie seien vom Licht Jesu erleuchtet worden, erklärt er. Auf einer Hügelkuppe steht eine kleine Kapelle, davor ist ein hölzerner Altar errichtet worden.

Das Wäldchen ist eines der letzten Überreste der ausgedehnten Zedernwälder, die einst in der Antike auf dem Libanongebirge wuchsen. Jahrhunderte der Abholzung haben ihnen zugesetzt. Germanos weist auf einen der Bäume und sagt: „Das ist die Zeder der libanesischen Flagge.“ Sie ist an einer Seite verkümmert. Nach dem Bürgerkrieg sei sie von Schädlingen befallen worden, sagt Germanos. Und dann habe es noch einen großen Sturm gegeben.

Source: faz.net