Lea Ypi: „Die Linken haben die Kapitalismuskritik den Faschisten überlassen“

In ihrem Bestseller „Frei“ erzählt die Philosophin Lea Ypi von ihrem Aufwachsen in Albanien „am Ende der Geschichte“, wie es im Untertitel heißt. Das Buch wurde ein internationaler Bestseller. Ypi lehrt an der London School auf Economics, zurzeit ist sie wegen Gastvorlesungen viel in Berlin, wo wir sie Ende Mai zum Gespräch über Europa getroffen haben.

ZEIT ONLINE: Frau Ypi, was ist für Sie europäisch? 

Lea Ypi: Ich bin aufgewachsen in Durrës, einer kleinen Stadt an der Adriaküste. Es gab im kommunistischen Albanien damals nicht viel zu tun – außer dem Xhiro, einer Art besserem Spaziergang, zu dem man seine schicken Kleider anzog und zum Meer ging. Auf dem Weg kam man vorbei an antiken griechischen Säulen aus der Zeit, in der die Stadt noch Epidamnos hieß, Aristoteles hat sie damals beschrieben. Dann folgte ein Amphitheater aus der römischen Zeit, als Nächstes ein venezianischer Turm, weil auch Venedig die Stadt mal erobert hatte, dann ging es vorbei an Gebäuden aus der ottomanischen Zeit. Und schließlich wartete an der Promenade die kommunistische Statue eines Soldaten, der das Gewehr auf das Meer richtete, als Symbol für den albanischen Widerstand gegen die italienischen Faschisten. All das, dieser tägliche Spaziergang in meiner albanischen Heimatstadt, das ist europäisch für mich: eine Geschichte von Kultur und Zivilisation, aber auch von Besetzung und Gewalt.