Lappland: Sind die Winter im Norden von Schweden nur düster? Von wegen! – WELT
Beim Aussteigen aus dem Zug in Kiruna, Schwedens nördlichster Stadt, ist es schon wieder dunkel. Dabei ist es an diesem Wintertag gerade einmal 15 Uhr. Gleich gegenüber vom Bahnsteig blickt man auf einen blütenweißen, grell beleuchteten Steilhang. Eine Skipiste? Eine alte, verschneite Abraumhalde der nahegelegenen Mine? Es ist beides – der gut 700 Meter hohe Luossavaara ist der alte Erzberg der Minenstadt Kiruna.
Hier wurde bis Mitte der 80er-Jahre Eisenerz gefördert. Jetzt ist es der städtische Hausberg mit drei Liften, Snowboardpark und Langlaufloipen. Er bietet einen atemberaubenden Blick auf die aktuelle Mine und den Kiirunavaara, Kirunas zweiten Erzberg, der daliegt wie ein gestrandeter, eingeschneiter Ozeanriese, aus dessen Schloten träge Dampf aufsteigt.
Jede Nacht um kurz nach ein Uhr wird tief unten in der Mine gesprengt. Der Bergbau ist weiterhin aktiv, das spürt man in der ganzen Stadt, in jedem Bett. Es rumpelt dumpf und die Wände vibrieren. Kiruna, das ist die größte, unterirdische Eisenerzmine der Welt. Seit 124 Jahren wird hier industriell gegraben, ohne die Mine gäbe es den 18.000-Einwohner-Ort nicht.
Überall frisst sie sich weiter unter die Stadt, jedes Jahr kommt sie ihr 40 Meter näher. Der Berg ist inzwischen so ausgehöhlt, dass die Gebäude darüber nicht mehr sicher stehen. 2010 wurde deshalb beschlossen, Kirunas Zentrum um drei bis fünf Kilometer nach Osten zu verlegen. 4000 Bewohner müssen ihre Häuser verlassen, die dann abgerissen werden.
Kiruna liegt 200 Kilometer nördlich vom Polarkreis in Lappland. Die Stadt ist im wahrsten Wortsinn im Umbruch und deshalb besonders spannend – wo sonst findet man Orte, in denen ganze Stadtteile innerhalb der nächsten Jahrzehnte verlegt werden? Nicht nur Fans von Lost Places kommen in Alt-Kiruna auf ihre Kosten, es gibt inzwischen auch schon Teile von Neu-Kiruna zu sehen.
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Das Umland bietet ebenfalls Spektakuläres, vor allem im Winter. Die Landschaft ist dick verschneit, nirgends in Schweden kann man Polarlichter besser sichten, und das erste, längst weltberühmte Eishotel empfängt nicht weit von Kiruna seit 1989 Gäste. Schon die Anreise hat es in sich: Auf der alten Erzbahnstrecke von Luleå, die bis ins norwegische Narvik führt, geht es stundenlang durch unberührte, bergige Tundra, man kommt sich vor wie auf einer Reise zum Ende der Welt.
Die komplette Kirche zieht in das neue Kiruna um
Dazu passende Endzeitstimmung kommt auf im alten Kiruna, wo langsam die Lichter ausgehen. Immer mehr Gebäude verschwinden hinter Bauzäunen, bis die Abrissbagger kommen. Man sollte sich diese merkwürdig unbelebten Quartiere am besten morgens ansehen. Schon ungefähr eine Stunde, bevor die Sonne aufgeht, ist es diffus hell, ganz Kiruna ist in ein Zauberlicht getaucht; in dezenten Pastelltönen kommt der Tag langsam näher.
Die älteren Häuser mit ihren grünen, gelben und roten Holzfassaden tragen bei zweistelligen Minusgraden allesamt eine Raureif-Schicht, die sie geheimnisvoll glitzern lässt. Da die Luft trocken ist, fühlt es sich anfangs nicht sonderlich kalt an, obwohl das Thermometer minus 16 Grad anzeigt. Ohne Handschuhe wird es allerdings schnell ungemütlich.
Aber nicht alles Alte wird zerstört: Die riesige Holzkirche von Kiruna ist das auffälligste Gebäude im Stadtzentrum. Ihre Form erinnert nicht nur an eine norwegische Stabkirche, sondern auch an eine zeltartige Kote der Samen, der Ureinwohner Lapplands, die früher als Rentiernomaden in solchen Behausungen gelebt haben. Bedeckt mit Reif und Schnee, wirkt sie wie ein verwunschenes Schloss aus einem Märchen von Hans Christian Andersen.
Das 1912 eingeweihte Gotteshaus wurde 2001 zu Schwedens schönstem Gebäude gewählt und zählt zum Kulturerbe des Landes. Deshalb wird es bewahrt, und zwar auf spektakuläre Weise: Die Kirche soll bis 2025 umziehen in das neue Kiruna. In einem Stück! Sie wird dafür komplett auf zwei Tieflader gestellt und dann an ihren neuen Standort gefahren. Dafür müssen Kreisverkehre geschleift und zahlreiche Ampeln und Lichtmasten abgebaut werden.
In das „Icehotel“ kommen Gäste aus aller Welt
Die neue Stadt soll viel nachhaltiger werden als die bisherige, etwa indem die enorme Abwärme vom Bergbau zum Heizen genutzt wird, und man setzt stärker auf Tourismus, um die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Erz zu verringern. Entsprechend modern kommt das neue Stadtzentrum daher, das schon in Teilen steht, etwa das neue Rathaus, ein Rundbau, neben dem der alte Uhrturm von Kiruna steht, der bereits umgezogen ist.
Ein modernes Schwimmbad und ein Kunst-Museum gibt es ebenfalls schon. Worauf auch geachtet wird: Materialien aus abgerissenen Gebäuden wie Fenster, Türen, Steine, Holzwände sollen wiederverwertet werden – „die Seele der Stadt wandert mit“, nennt es ein beteiligter Architekt.
Abriss und Wiederaufbau sind auch Thema einer Attraktion ein paar Kilometer außerhalb von Kiruna: In Jukkasjärvi liegt das weltberühmte „Icehotel“. Ingve Bergqvist kam vor mehr als 30 Jahren auf die verrückte Idee dazu. Er organisierte früher Rafting-Touren auf dem Fluss Torneälv und wollte die Menschen auch im Winter in den Norden Schwedens locken.
Heute kann man dort in einer eindrucksvollen Eiskapelle heiraten, in der Eisbar Longdrinks schlürfen und in rund 30 Zimmern und Suiten mit Schlafsack auf Rentierfellen im Eis-Bett übernachten. Bei minus fünf Grad. In den Räumen ist es ganz still, die Luft ist frisch, überall glitzert es geheimnisvoll. „Das Eis wird jedes Jahr im Winter aus dem Fluss geerntet“, sagt Geschäftsführerin Marie Herrey. Spezialmaschinen sägen je zwei Tonnen schwere, lange Blöcke aus dem Torneälv. Die sind so klar, dass man fast durchsehen kann.
Auch wenn die Nacht im Eis nicht gerade billig ist, kommen Gäste aus aller Welt hierher. Inzwischen sogar ganzjährig – ein Teil der Eiszimmer kann seit einigen Jahren an 365 Tagen pro Jahr gebucht werden, hier wird die Raumtemperatur im Sommer auf Frostniveau heruntergekühlt. Die anderen Räume, etwa die kunstvoll gestalteten Suiten, schmelzen ab dem Frühjahr in der Sonne und fließen in den Fluss zurück.
Fahrt mit der Bahn durch das verschneite Lappland
Kiruna erreicht man am schönsten (und nachhaltigsten) mit dem Zug auf der berühmten Erzbahn, der nördlichsten Normalspur-Bahnstrecke Europas. Sie führt vom schwedischen Luleå am Bottnischen Meerbusen über 470 Kilometer bis zum norwegischen Hafen Narvik, der auch im Winter eisfrei ist.
Aus dem Zugfenster starrt man stundenlang nur auf verschneite Wälder, Tundra und Berghänge, sehr entspannend für die Augen. Ab und zu taucht ein einsamer Hof oder ein verschneiter Bahnübergang auf. Ansonsten: weiße Weite. Die Wagen sind ordentlich überheizt, wie sich das im Lappland-Winter gehört. Das Personal ist freundlich, es gibt an Bord eine kleine Cafeteria für die Fika, die schwedische Kaffeepause.
Die Bahnstrecke wird in Schweden Malmbanan und in Norwegen Ofotbanen genannt, sie wurde ab 1884 für das weltweit begehrte Erz aus der Mine in Kiruna gebaut. Der schönste Abschnitt musste vor wenigen Wochen für einige Zeit gesperrt und aufwendig repariert werden. Ein voll beladener Erzzug aus Kiruna war auf dem Weg nach Narvik kurz vor der norwegischen Grenze entgleist.
Die Bahn passiert auch Abisko – das ist schwedenweit der beste Ort, um Polarlichter zu sehen. Weil es dort so gut wie keine Lichtverschmutzung gibt. Ausgangspunkt dafür ist die „Abisko Turiststation“, eine fantastisch gelegene Herberge am riesigen, zugefrorenen Torneträsk-See. Jeweils am späten Abend rattert von dort ein altersschwacher Sessellift den Berg hoch zur Aurora Sky Station, 900 Meter über dem Meeresspiegel.
Sicherheitshalber muss jeder, der das Event gebucht hat, einen dick gefütterten Overall überstreifen, falls der Lift mal steckenbleibt. Kurios: Unten im Tal sind es in dieser Nacht minus 15 Grad, oben hingegen nur minus fünf, eine Inversionswetterlage ist schuld.
Polarlichter wirbeln über den nächtlichen Himmel
Oben angekommen, stapfen die Polarlichtjäger mit ihren Stativen durch den Schnee. Alle staunen über das vom Vollmond beleuchtete Bergpanorama mit dem zugefrorenen See unten im Tal. Am Himmel ist zunächst nur ein heller Streifen zu erkennen. Ist das etwa schon ein Polarlicht? Handy raus, Nachtmodus an – und siehe da: Was mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen ist, zeigt sich auf dem Display leuchtend grün. Begeisterungsschreie, Selfies, jedes kleine Flackern am Nachthimmel wird ab sofort mitgenommen.
In der Bergstation werden später bei Kaffee und Keksen die wissenschaftlichen Hintergründe erklärt: Polarlichter sind meist grün, manchmal auch rot; sie entstehen durch besonderes Weltraumwetter, nämlich durch Partikel der Sonnenwinde, die die Erdatmosphäre aufwirbeln. Mitten im Vortrag rennen plötzlich alle wieder raus, weil das unberechenbare Polarlicht noch einmal großflächig über den Himmel wirbelt. Wie schön, wenn man sich im dicken Overall einfach in den Schnee plumpsen lassen kann, um diese besondere nächtliche Aussicht zu genießen.
Am nächsten Morgen leuchten die verschneiten Berghänge in Zartrosa, sogar schon eine Stunde, bevor die Sonne aufgeht. Die Landschaft sieht kitschig schön aus, man wäre nicht erstaunt, wenn hier gleich eine Horde Einhörner angetrabt käme. Sage noch einer, die Winter im hohen Norden seien dunkel und fad. Das Gegenteil ist der Fall.
Tipps und Informationen für Schweden:
Anreise: Zum Beispiel mit Eurowings nonstop von Düsseldorf nach Kiruna; SAS bietet Umsteigeflüge etwa über Stockholm oder Kopenhagen an. Wer mehr von der Landschaft sehen will, reist mit dem Nachtzug der schwedischen SJ von Stockholm nach Kiruna, Fahrtzeit 15 Stunden; ein Schlafplatz im Sechserabteil kostet etwa 110 Euro, ein Bett im Dreierabteil 140 Euro. Auf der spektakulären Strecke der Eisenerzbahn zwischen Luleå und Narvik ist man rund 7,5 Stunden unterwegs, das Ticket für die 470 Kilometer kostet rund 70 Euro (sj.se/en/).
Unterkunft: Das moderne „Scandic Kiruna“ mit Sky-Bar und Panorama-Sauna liegt im neuen Teil der Stadt, Doppelzimmer ab 240 Euro (scandichotels.com). Bis April sind die temporären Eiszimmer im Winter-„Icehotel“ in Jukkasjärvi buchbar, im „Icehotel 365“ kann man ganzjährig auf Eisbetten nächtigen, Doppelzimmer ab 615 Euro (icehotel.com). In Abisko liegt die „STF Abisko Turiststation“ mit Herberge, Hotel, Holzhäusern; schlicht, aber modern eingerichtet, Doppelzimmer ab 130 Euro, Outdoor-Aktivitäten vor Ort buchbar, etwa eine nächtliche Polarlichttour ab 90 Euro (svenskaturistforeningen.se/boende/stf-abisko-turiststation/).
Weitere Infos: Kiruna: kirunalapland.se/en/; Visit Sweden: visitsweden.de.
Führungen durch Alt- und Neu-Kiruna bietet Kiruna Storytelling (Kontakt: dan@kirunastorytelling.se). Touren durch die Erzminen in Kiruna können hier gebucht werden: kirunalapland.se/en/activities/lkabs-visitor-centre/
Source: welt.de