Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen: Was Ost und West noch unterscheidet
Wahl in Thüringen und Sachsen
So ungleichwertig ist es im Osten
Von FALK HEUNEMANN, Grafiken: CLAUDIA BOTHE
28. August 2024 · Warum viele Wähler in Thüringen und Sachsen frustriert sind, verwundert Westdeutsche. Viele Kreise zwischen Ostsee und Erzgebirge sind abgeschlagen. Doch in manchen Punkten haben sie Westniveau erreicht.
In Teilen des Westens herrschen ostdeutsche Verhältnisse. Zum Beispiel in Pirmasens: Die rheinland-pfälzische Kreisstadt mit gut 40.000 Einwohnern nahe der französischen Grenze hat eine ähnlich geringe Wirtschaftsleistung wie der sächsische Vogtlandkreis oder die ostthüringische Stadt Gera, in diesen Kommunen beträgt das Bruttoinlandprodukt rund 60.000 Euro pro erwerbstätigem Einwohner – beinahe ein Drittel weniger als im Bundesschnitt. Fast könnte man sagen, es herrschten gleichwertige Verhältnisse zwischen diesen westdeutschen und ostdeutschen Orten.
Wie sehr unterscheiden sich Ost und West, 34 Jahre nach der Vereinigung? Die Frage werden sich so manche spätestens stellen, wenn am 1. September die ersten Landtagswahlergebnisse aus Thüringen und Sachsen eintreffen, und – sofern die Umfragen sich bewahrheiten – abermals mehr Wähler für die populistischen Parteien stimmen. Fast jeder dritte in Sachsen und Thüringen könnte demnach die Alternative für Deutschland wählen, in Brandenburg drei Wochen später jeder vierte. Das neue Bündnis Sahra Wagenknecht kann in diesen drei Bundesländern auf zweistellige Ergebnisse hoffen.
So schlecht gehe es dem Osten gar nicht mehr, heißt es dann mitunter. Es dürfte abermals die Zahl von rund 1,6 Billionen Euro netto zitiert werden, die seit 1990 in die ostdeutschen Bundesländer als Transferleistungen geflossen sind, ein Großteil davon in Form von Rentenansprüchen und anderen Sozialausgaben. Nach all dieser Zeit und solchen Summen müsse doch die wirtschaftliche Annäherung an den Westen abgeschlossen sein.
Tatsächlich gibt es Indikatoren, die zeigen, dass der Osten aufgeschlossen hat. Andere offenbaren, dass die östlichen Bundesländer weit von gleichwertigen Verhältnissen entfernt sind. Und zumindest für einige Regionen ist zu prognostizieren, dass sie auch zukünftig abgeschlagen sein werden.
Arbeitslosigkeit
Tatsächlich lassen sich einige Kreise im Westen finden, denen es ähnlich gut oder schlecht geht wie Kommunen im Osten. Mit einer Arbeitslosenquote von rund zehn Prozent ist etwa die Landeshauptstadt Schwerin inzwischen auf Augenhöhe mit Salzgitter, Bremen oder Krefeld.
Nach den vielen Nachwendejahren, in denen in Ostdeutschland an die zwei Millionen Bürger real ohne Job waren – wenn man die Hunderttausende Teilnehmer an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Frühverrenteten dazurechnet –, ist diese Entwicklung bemerkenswert.
Nun herrscht die höchste Arbeitslosigkeit in Gelsenkirchen, Bremerhaven, Duisburg und Pirmasens. Auch beim Anteil der Wohngeldempfänger an der Bevölkerung hat Ostdeutschland aufgeschlossen. Im schleswig-holsteinischen Lübeck beziehen ähnlich viele Einkommensschwache diesen Mietzuschuss wie im sächsischen Görlitz, im badischen Pforzheim sind es nicht weniger als im thüringischen Suhl.
Einkommen
Auch die Armutsgefährdung ist nicht mehr höher. Gemessen wird sie daran, wie viele Personen weniger als 60 Prozent des bundesweiten Medianeinkommens beziehen. Es umfasst nicht nur Löhne, sondern auch Renten, Sozialleistungen, Mieten und Zinsen. Aktuell liegt diese Grenze bei 15.800 Euro netto im Jahr. In Thüringen und Sachsen fällt jeder Sechste darunter, so viele sind es auch in Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz. Was die unteren Einkommen betrifft, ist die Situation mittlerweile gleichwertig.
Auf der anderen Seite leben jene mit hohen Einkommen von mehr als 200 Prozent des Medianeinkommens – mindestens 52.000 Euro netto im Jahr – fast nur in Westdeutschland. Der Anteil der Gutverdiener ist selbst im Saarland und in Bremen höher als in Sachsen und in Thüringen. In ostdeutschen Bundesländern sind zwar seit 1990 Hunderttausende Arbeitsplätze entstanden. Firmenzentralen mit vielen gut bezahlten Stellen oder auch Bundesbehörden mit vielen Leitungspositionen sind aber kaum umgezogen. Auch Einnahmen aus Immobilienbesitz erzielen vor allem Westdeutsche.
Löhne
Dass Beschäftigte in Jena im Mittel nun ähnlich viel verdienen wie Berufstätige am Bodensee oder im bayerischen Bamberg, ist die Ausnahme. Von den 50 Kreisen mit den niedrigsten Medianentgelten in Deutschland liegen 49 in den fünf östlichen Ländern, dazu kommt als einziger westdeutscher Kreis Cloppenburg in Niedersachsen. Zwar sind die Löhne in diesen 49 Kreisen im vergangenen Jahrzehnt fast doppelt so stark gestiegen wie in den meisten westdeutschen Regionen.
Doch auch bei diesem Tempo würde es noch viele Jahre dauern, bis sie zum Bundesdurchschnitt aufschließen. In großen Teilen Sachsens und Thüringens zählt jeder dritte Beschäftigte zum Niedriglohnsektor, bekommt also weniger als 2430 Euro brutto im Monat. Selbst in Kreisen in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz sind es nur halb so viele. Nur in Jena und Dresden ist in Ostdeutschland der Anteil der Geringverdiener unter 20 Prozent.
Vermögen
Auch wegen der niedrigeren Einkommen ist es vielen Ostdeutschen schlechter gelungen, Vermögen aufzubauen. Nach Zahlen der Bundesbank kommen ostdeutsche Haushalte im Median auf 43.400 Euro netto, in Form von Erspartem, Aktienfonds oder Immobilien und abzüglich Schulden und Krediten. Das ist weniger als die Hälfte des Bundesschnitts.
Das Aufkommen der Erbschaftsteuer fällt nahezu komplett in westdeutschen Bundesländern an, auch der Wert von Immobilien hat im Westen erheblich stärker zugelegt als in vielen Regionen des Ostens, in denen die Bevölkerung schrumpft. Ohne Vermögen aus Einkommen, Erbschaften oder Immobilien fällt es schwerer, ein eigenes Unternehmen zu gründen, deren Wachstum zu finanzieren oder in andere zu investieren.
Forschungsinvestitionen
Die Aussichten, dass sich die Lage bessert, sind abgesehen von Zentren wie Leipzig, Dresden oder Potsdam vergleichsweise gering. Ein Indikator ist, wie viel Unternehmen in den Regionen in Forschung und Entwicklung investieren.
Gut 82 Milliarden hat die Wirtschaft 2022 dafür ausgegeben, drei Viertel davon allerdings in den Industrieregionen von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Auf die Einwohnerzahl gerechnet, sind Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern in diesem Punkt die Schlusslichter. Die industriell stärkeren Länder Thüringen und Sachsen stehen etwas besser da, knapp vor dem Saarland und Schleswig-Holstein – aber weit hinter anderen Flächenländern wie Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen.
Bevölkerungsentwicklung
Noch deutlicher wird der Ost-West-Unterschied bei der Demographie: Unter den 50 Kreisen mit der ältesten Bevölkerung liegen 42 zwischen Rügen und Thüringer Wald. Dort ist mehr als jeder Vierte älter als 65, in den südthüringer Kreisen und im Erzgebirge fast jeder Dritte. Überraschend ist dieses demographische Gefälle nicht: Seit 1991 sind 3,7 Millionen Ostdeutsche in den Westen gezogen, zumeist Jüngere und Gutausgebildete. Der heutige Landkreis Saalfeld-Rudolstadt in Thüringen etwa verlor seit der Wende mehr als jeden dritten Einwohner, insgesamt rund 40.000.
Zwar migrierten auch mehr als zwei Millionen Personen nach Ostdeutschland, viele davon waren Rückkehrer. Aber sie zogen selten in Regionen, die verlassen wurden, sondern in die wenigen großen Städte oder in die brandenburgischen Kreise rund um Berlin. Brandenburg hat deshalb, anders als Thüringen und Sachsen, in den vergangenen Jahren seine Bevölkerungsgröße nicht nur gehalten, sondern sogar zugelegt.
Wo wenig Jüngere leben, fehlen künftig Arbeitskräfte und Kunden. Es siedeln sich weder Unternehmen an, noch kann der Einzelhandel blühen. Dort werden weniger Kinder geboren, Familien wandern ab. Der Wert von Eigenheimen fällt. Es werden weniger Behörden gebraucht, und es wird weniger in Straße und Schiene investiert. Die Aussichten, dass sich bei Einkommen oder Vermögen viele ostdeutsche Regionen weiter verbessern können, sind also gering.
All dies liegt nicht nur an den Geschehnissen seit der Wende, dem Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie, den Folgen der Währungsunion für den Ostexport oder an der Treuhand, die 95 Prozent des Betriebsvermögens an Westdeutsche und ausländische Investoren übertrug.
Ökonomen können auf die Folgen von 40 Jahren Planwirtschaft verweisen, Historiker an den Abbau von Industrieanlagen durch die Sowjetunion als Reparationsleistungen 1945 oder die Einschränkung von Privatbesitz erinnern, Soziologen an die anhaltende Landflucht, die im ländlich geprägteren Osten stärker ist als im Westen, wo eine Mehrheit längst in Städten lebt.
Dass ein ökonomischer Vergleich mit Nachbarn für Frust sorgt, gilt nicht exklusiv für den Osten. So finden sich in einer aktuellen Umfrage der Bundesregierung, wie zufrieden Bürger mit ihrer aktuellen Lebenssituation seien, auch westdeutsche Regionen unter den mehr als 100 Landkreisen, die mehrheitlich „unterdurchschnittlich zufrieden“ sind. Pforzheim beispielsweise, Salzgitter und Pirmasens. Jene Kreise, die zumindest in manchen ökonomischen Indikatoren gleichwertig mit ostdeutschen sind.
In Salzgitter und Pforzheim stimmte übrigens bei der Europawahl mehr als jeder Fünfte für die AfD, in Pirmasens mehr als jeder Vierte.