Lagerfeuer jener Nation: So verletzlich

Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 42/2024.

Im Frühjahr 2017 wurde Twitter
zwischenzeitlich ein besserer Ort. Plötzlich tauchte da ein Account namens @herbstblond in den Timelines auf, wurde retweeted, gemocht, gefeiert, ein schönes knappes Jahr lang. Seine regelmäßigen Aktivitäten endeten im April 2018 mit den Worten: „Sommerpause! Ich schreib ein Buch …“ Doch auf den Sommer folgte nie ein Herbst. Den Account kann man
sich heute noch anschauen
. Und während es über den Accountbetreiber Thomas
Gottschalk heute oft heißt, er sei „schlecht gealtert“: @herbstblond ist es
überhaupt nicht.

Das ist vor allem deshalb
interessant, weil auch das damalige deutschsprachige Twitter weiß Gott kein
Wohlfühlort für alte weiße Männer war, die nun –  wie neben Gottschalk zuletzt auch Jan Josef
Liefers
– gegen einen mutmaßlich woken Zeitgeist wüten. Damals hatte sich
#Aufschrei längst ereignet und wirkte nach, auch #metoo zog seine Kreise. Gottschalk kam in jener Phase zu Twitter,
als dort lange vor Elon Musks Einstieg eher linke, diskriminierungssensible,
man könnte auch da schon sagen: „woke“ Stimmen viel Raum bekamen. Gottschalk aber fand –
mit der Unterstützung der Autorin Else Buschheuer, die er als Mentorin in dem
Medium oft nennt – bis zuletzt eine schöne, nämlich dosiert selbstironische
Sprache.

Über ein Bild seines Sohnes, der
Gottschalks Enkel mit der Flasche füttert, schreibt er da: „Bin stolz auf
meinen Sohn, aber ich hab noch gestillt!“ Da klingt ein Generationenkonflikt
zwar leise an, aber es bleibt angenehm unklar, wem der Spott nun gilt. Andere
Fundstelle, ähnliche sympathische Uneindeutigkeit: „Bis ich gecheckt habe, ob es
missverständlich, übergriffig, unsensibel oder political incorrect ist, habe
ich vergessen was ich sagen wollte.“ Klar fremdelt da einer mit dem Zeitgeist.
Aber am Ende richtet er den Witz auch gegen sich selbst, den allzu vergesslichen,
nur noch herbstlich blonden Opa.

Fast in Stereo dröhnt Liefers aus dem „Playboy“

Was aber ist seitdem passiert,
mit Gottschalk, aber auch zum Beispiel mit Liefers? Offensichtlich eine Menge
sehr Verstörendes oder gar Verletzendes. Fast in Stereo mit dem unter der
Überschrift „Ich habe Frauen im TV rein dienstlich angefasst“ skandalträchtig vom
Spiegel interviewten Gottschalk
dröhnte auch Liefers am vergangenen
Wochenende viel zitiert aus dem neuen Playboy. Als vermeintliche „Kehrseite“ von #metoo nannte er da: „Mancher Mann denkt heute
viermal drüber nach, bevor er einer Frau ein Kompliment macht, denn es könnte
für ihn nach hinten losgehen.“ Als wäre Nachdenken falsch. Auch Liefers, in
gewisser Weise Gottschalks ostdeutscher Konterpart als ehemalige Konsensfigur
im Showbizz, die
seit einiger Zeit polarisiert
, wurde an dieser Stelle
äußerst eindimensional wahrgenommen. Von den einen als „Endlich sagt’s mal
einer“-Held. Von den anderen als bestenfalls unangenehmer Typ, der Freiheit als
Übergriffigkeit missversteht. Und wieder wurden ein paar Lagerfeuer der Nation ausgepinkelt, falls die überhaupt noch glommen. 

Zwei Fragen nun. Die erste: Ist
das gerecht? Die zweite: Ist das schlimm? Bereits die erste ist erstaunlich
schwierig zu beantworten. Liefers sprach in seinem Interview auch empathisch
über Machtmissbrauch in der Filmbranche. Und in jenem höchst konfrontativen Spiegel-Gespräch
mit Thomas Gottschalk gibt es eine sehr zarte und ehrliche Passage, die
zugleich viel erklärt: „Aber niemand ist glücklich darüber, wenn er spürt, dass
ihm die Dinge entgleiten“, sagt Gottschalk da. Und weiter: „Das ist etwas, das
man mit dem Alter feststellt: Man erledigt sich. Doch darüber darf man nicht
klagen.“ Beides ging unter in der Emphase zugespitzter Schlagwortdiskurse. 

Zugleich kann man Medienprofis wie Gottschalk und Liefers just jene
Verantwortung zuweisen, die speziell Gottschalk zuletzt mit großer „Es haben
mich schon immer Leute vereinnahmt“-Geste zurückwies. In ihrer wütenden Abwehr
einer Wokeness, deren Diskursdominanz sie in einem messbar nach rechts
driftenden Land nur noch mutmaßen, entzünden sie – statt eines heimeligen
Lagerfeuers – unkontrollierbare Brände. Wenn sie laufend Schlagzeilen für die
sehr präsente anti-woke Bubble rund um die AfD liefern, bläht die sich immer
weiter auf. Wie die einschlägigen rechten Medien ihre Interviews
ausschlachteten: Man kann es sich ansehen, wenn man starke Nerven hat.

Damit ist aber die zweite Frage
überraschend eindeutig beantwortet: Doch, wir alle brauchen Männer wie Liefers und
Gottschalk. Und es hilft nichts, sie mit einseitigen Lesarten ihrer jetzigen
Aussagen und ihres ganzen Werks immer weiter in die Schmollecke zu treiben. Kurz
gesagt: Die Last gesellschaftspolitischer Stabilität im Showbizz kann nicht
allein auf Menschen mit Migrationshintergrund wie Helene Fischer und Giovanni Zarrella und Homosexuellen wie Hape Kerkeling lasten. Auch sie brauchen
Verbündete ohne Diskriminierungserfahrung, die wiederum andere Menschen ohne
Diskriminierungserfahrung erreichen und sie für Diskriminierung sensibilisieren.
Blöd eigentlich, wenn die sich selbst diskriminiert fühlen.

Dabei ist es gar nicht so schwer,
ihnen dieses Gefühl zu nehmen, indem man ihre Verdienste um das
gesellschaftliche Miteinander anerkennt. Liefers ist als Teil der friedlichen
Revolution von 1989 ohnehin einigermaßen sakrosankt. Aber auch Gottschalk hat –
als Unterhalter – viel größere, beziehungsweise noch ganz andere Verdienste, als
er selbst glaubt und als ihm auch heute retrospektiv zugestanden wird. Wer sich
ältere Wetten, dass..?-Sendungen genauer anguckt, sieht eben keinen, der
permanent an Frauen rumgrabbelt und über Minderheiten oder die ach so blöde
Jugend lästert.

„Das ist ein Gefallen, den ich mir selber tue“

Vielmehr zeigt sich da oft einer, der ironisch
reflektiert, dass seine Neigungen ein ganz eigenes Paar Schlangenlederschuhe
sind – und der eben damit, seinerseits als Freak, das Lagerfeuer für alle
Normalos am Lodern hält. Beispielhaft
sei hier die große Schlussszene seines Abschieds auf Mallorca anno 2011
genannt.
Gottschalk moderierte seine Leib- und Magen-Band Status Quo, die
außer ihm schon damals nur einen lederwestrigen Ausschnitt der Bevölkerung
interessierte, nicht selbstgerecht kulturkämpferisch an. Er sagte vielmehr, an
diesem großen Punkt seiner Karriere: „Das ist ein Gefallen, den ich mir selber
tue.“ Und wer hätte ihm den damals nicht gegönnt, als er noch nicht so sehr
darauf aus war, sich selbst keinen Gefallen mehr zu tun?

Das spricht alte Männer nicht
davon frei, frühere Fehlgriffe klar als solche zu benennen. Es hilft aber auch
nicht der ahistorische Reflex, ihr ganzes Tun und Sein über Jahrzehnte allein
auf Belegstellen für „War schon immer problematisch, siehste“ zu durchflöhen,
wie es ihre Kritiker nun tun. Man kann kulturpessimistisch wie Gottschalk
werden, wo ein von Launen, Tagesform und nicht zuletzt Konventionen geprägtes Showleben
auf ein paar unrühmliche Ausschnitte für TikTok und Ex-Twitter verdichtet wird.
Gleiches gilt übrigens auch für Stefan Raab: Der war zu seinen großen Zeiten eine
höchst ambivalente Figur, die nicht nur auf den Schwachen und Hässlichen herumtrampelte,
sondern auch die Starken und Schönen herausforderte. Und problematisch ist eher, was heute davon
bleibt.

Wenn die Lagerfeuer der Nation
verlöschen, wird es finster. Genau das geschieht aber, wo sich reflexhaft
Kritik und Gegenkritik an patriarchalem Gehabe verhaken. Wie schön wäre aber
eine neuerliche Neuauflage von Wetten, dass..?, in der junge weibliche
Popstars sich als charmante Diskutantinnen erweisen können, ohne – wie
zuletzt Shirin David von Thomas Gottschalk
– grob paternalisiert zu werden.
In denen kontroverse Politiker einander als Menschen begegnen und ein
Showmaster keine Altherrenwitze macht, sondern Witze über sich als alten Herren?
Wie heilsam auch für ein Land, das gerade in jene amerikanischen Verhältnisse
abdriftet, in denen alle nur sehen, was sie sehen wollen.

Auf die Gefahr hin, respektlos zu
klingen: Auch im therapeutischen Kontext hilft es ja, Menschen an sich selbst
zu erinnern. Thomas Gottschalk zum Beispiel hat schon einmal bewiesen, mit den
Zumutungen charmant umgehen zu können, die neue digitale Diskursräume für alte
weiße Showmänner bedeuten. Bei Twitter tanzte der greise Patriarch erkennbar
reflektiert in den Ketten gesellschaftlicher Konventionen. Und man möchte doch
meinen, gerade darin hätte auch der Lustgewinn bestanden – spielt guter Humor
doch immer mit den ihn umgebenden Tabus. Er will vielleicht selbst mit uns allen ins Jahr 1997 zurückkehren. 2017 war er aber noch viel besser.