Lage in jener Ukraine: Souverän ist, wer Raketen hat

Panzerkoalition, Drohnenkoalition, Flugabwehrkoalition, Kampfjetkoalition. Klangvolle Namen für Gruppen aus jeweils mehreren, manchmal vielen, Unterstützerstaaten der Ukraine, die ihre Militärhilfen untereinander koordinieren – je nachdem, womit sie dem Land helfen wollen. In den vergangenen Wochen bildete sich noch eine neue Koalition. Inoffiziell, scheinbar ohne ein koordiniertes Vorgehen, ohne ein Beschlussdokument. Ihr Ziel: der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet zu ermöglichen. 

Regierungsvertreter von 13 europäischen Ländern und Kanadas haben sich öffentlich dazu bekannt, dass die Ukraine russisches Gebiet angreifen dürfen soll. Es sind Länder wie die baltischen Staaten und Polen, die seit Kriegsbeginn besonders intensiv für eine maximale Unterstützung der Ukraine werben. Die aber auch nur wenige Waffen geliefert haben, deren Einsatz gegen Ziele auf russischem Gebiet sinnvoll und möglich ist. 

Doch es sind auch Staaten dabei, deren Zusage auf den ersten Blick viel bewirken kann. Dänemark etwa, das der Ukraine noch im Sommer F-16-Kampfjets liefern will, und dessen Regierungschefin Mette Frederiksen keine territorialen Auflagen für deren Einsatz stellt. Auch Frankreich und Großbritannien gehören dazu. Beide Staaten versorgen die Ukraine mit Marschflugkörpern von 250 Kilometern Reichweite.

Unterstützt nun halb Europa Angriffe auf russisches Gebiet? Ist diese selbstauferlegte rote Linie weggefallen? Der eigentliche Adressat dieser Zusagen hat sich offenbar zumindest teilweise dazu bewegen lassen. US-Präsident Joe Biden will nun begrenzte Angriffe auf russische Ziele gestatten. Die Erlaubnis gilt für die Verteidigung Charkiws, wo die Ukraine künftig Russland auch hinter der Grenze attackieren kann. Und zwar ohne darauf zu warten, dass russische Truppen diese Grenze an weiteren Orten überschreiten. Die Bundesregierung, die sich lange dagegen aussprach, vollzog eine Wende und schloss sich am heutigen Freitag der US-Erlaubnis an.

Ein Wendepunkt des Kriegs, in dem die Ukraine, wie US-Politiker zuletzt bemängelten, bisher „mit einer Hand hinter dem Rücken“ kämpfen musste? So könnte es scheinen. Beobachter verweisen seit Monaten darauf, dass sich das Land viel wirkungsvoller verteidigen könnte, wenn es nicht von seiner Staatsgrenze eingeschränkt wäre – der Staatsgrenze, die Russlands Präsident Wladimir Putin so demonstrativ ignoriert. Das US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) verweist auf Hunderte russische Ziele, die innerhalb der Reichweite von bereits gelieferten Waffen lägen. Kommandostellungen und Waffenlager etwa, Munitionsdepots und Militärflugplätze. 

Russland nutze die „Sicherheitszone“ im Grenzgebiet zur Ukraine, um von dort aus seine Angriffe zu starten. Vor den Augen der ukrainischen Armee, innerhalb der Reichweite ihrer Waffen, aber außerhalb der Einsatzerlaubnis. Die Folge: Russland könnte im ukrainischen Grenzgebiet Tausende Orte bombardieren, ohne seine Kampfjets einer Abschussgefahr auszusetzen. Nach Angaben der Regierung in Kiew warfen russische Kampfjets seit Jahresbeginn auf diese Weise 10.000 schwere Gleitbomben über ukrainischen Stellungen und Städten ab.

„Wir sind paralysiert, weil die US-Politik bestimmt, dass wir amerikanische Geschosse nicht auf russischem Gebiet einsetzen dürfen“, schrieb am Mittwoch der Kommandeur einer ukrainischen Drohneneinheit in einem Gastbeitrag in der Washington Post. „Bitte bindet unsere Hände los.“ Ben Hodges, der ehemalige Kommandeur der US-Landstreitkräfte in Europa, kritisierte die US-Auflagen deutlich härter. Es gebe „keine juristische oder moralische Rechtfertigung für diese schlechte Politik“, schrieb der Ex-General. Die Ukraine sollte um eine solche Erlaubnis nicht mal bitten dürfen. Umgekehrt, die USA sollten sie zu Angriffen aufs russische Hinterland „ermutigen“. Und auch das ISW schreibt: „Weder Russland noch ein anderer Staat hat das Recht, sein Hoheitsgebiet in einem von ihm begonnenen Angriffskrieg als unantastbar zu betrachten.“

Wie viel die Befreiung von den Auflagen der Ukraine in der Praxis bringen kann, hängt davon ab, wie weitreichend sie ist. Wenn der Ukraine Angriffe tief in russisches Gebiet gestattet werden, könnte das die russische Logistik unter schweren Druck stellen und die Kriegsführung Russlands erheblich beeinflussen, schreibt das ISW. Kampfflugzeuge könnten abgeschossen werden, ehe sie die Ukraine erreichen, oder gar direkt auf Militärflugplätzen zerstört werden. Ein Gebiet von fast 350.000 Quadratkilometern entlang der Staatsgrenze wäre für die russischen Truppen nicht mehr sicher. Die Großstadt Charkiw, der wegen ihrer Grenznähe eine langsame Auslöschung droht, wäre deutlich sicherer vor Bombenangriffen, ebenso ukrainische Soldaten in ihren Stellungen, die Russlands Gleitbomben bisher mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert sind.

Doch Bidens Erlaubnis beschränkt sich auf russische Gebiete nördlich von Charkiw. Sie folgte laut US-Medienberichten auf langwierige Überzeugungsbemühungen des Außenministers Antony Blinken, der die Ukraine jüngst besuchte. Und natürlich dem russischen Einmarsch in Charkiw. Übersetzt heißt das: Sie soll der Ukraine helfen, ihre Nordgrenze zu sichern. Russlands Armee mit tiefen Schlägen zu schaden, den Krieg möglicherweise gar zu wenden, ist von den USA weiterhin nicht erwünscht. Der scheinbare Politikwechsel betrifft nur die taktische Ebene in einem von vielen Schauplätzen des Kriegs. Ein Strategiewandel geht von ihm nicht aus, die Unterstützung der Ukraine bleibt ohne klare strategische Vision und rein reaktiv.

Die Folgen werden daher wohl kaum so weitreichend sein, wie sie aus ukrainischer Sicht sein müssten. Denn schon jetzt passt sich Russland offenbar daran an. Auf mindestens einem Militärflugplatz weit hinter der Grenze, wo die Kampfjets bisher unter offenem Himmel geparkt worden waren, errichtet Russland derzeit Hangars, wie Satellitenbilder zeigen. Angriffe mit ukrainischen Drohnen könnten dadurch stark an Wirkung einbüßen. Raketenangriffe wären für so ausgebaute Flugplätze weiter gefährlich. Stand jetzt bleiben sie verboten. Wie das meiste, was Putin den Krieg wirklich erschweren würde.

Die Botschaft, die von der eingeschränkten Erlaubnis des Westens ausgeht, gleicht einer düsteren Lektion. Solange die Ukraine keine eigenen Raketen und Marschflugkörper produziert und auf US-amerikanische und europäische Waffen angewiesen bleibt, ist sie in ihren Entscheidungen nur theoretisch frei. Praktisch jedoch kann sie ihre Souveränität nur soweit verteidigen, wie es im Weißen Haus und anderen westlichen Regierungssitzen entschieden wird. Paradoxerweise greifen die Unterstützerländer der Ukraine auf diese Art mehr in den Krieg ein, als wenn sie sich auf eine Rolle als Waffenlieferant beschränken würden – trotz der immer wiederkehrenden Betonung, nicht Kriegspartei werden zu wollen.

Der strategische Wandel, der darin besteht, den Krieg in Putins Territorium hineinzutragen, kann also nur von der Ukraine selbst ausgehen. Das Land arbeitet seit zehn Jahren an Hrim-2, einer ballistischen Rakete mit 450 Kilometern Reichweite, die sie einsetzen könnte, ohne ihre Partner um Erlaubnis zu bitten. Das Programm war lange unterfinanziert. Wann es abgeschlossen wird, ist unklar. 

Weiter vorangeschritten ist die Entwicklung des Seezielflugkörpers Neptun. Es waren solche Flugkörper, die im April 2022 das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte versenkten. Seitdem wurden sie für den Einsatz gegen Bodenziele modernisiert und trafen dabei mehrmals Luftverteidigungssysteme auf der Krim. Am heutigen Freitagmorgen teilte das ukrainische Militärkommando mit, einen Ölhafen in der südrussischen Region Krasnodar mit dem Neptun beschossen zu haben. Bis solche Angriffe für Russlands Militär bedrohlich werden, dürften durch die US-Auflagen noch viele zusätzliche Kriegsmonate vergehen.


Modell eines Neptun-Flugkörpers bei einer Rüstungsmesse in Polen im September 2022


Das Zitat: wen Eskalationsmanagement wirklich schützt

Die erweiterte Einsatzerlaubnis für westliche Waffen bedeutet für die Ukraine in der Praxis mehr Möglichkeiten bei der Abwehr russischer Artillerie-, Raketen- und Bombenangriffe. Politisch ist sie zugleich ein Signal, dass der Westen zu Risiken bereit ist, um der Ukraine die Verteidigung zu ermöglichen. Denn mit Risiken hatten ehemalige Gegner eines solchen Schritts,
darunter auch die nun umgeschwenkte Bundesregierung, argumentiert. Sie
verwiesen auf russische Androhungen einer Eskalation – oft ohne klarzumachen, was das konkret bedeutet.  

Darauf wiesen in einem Gastbeitrag für
Foreign Affairs
Mitte Mai Eliot A. Cohen, ein Ex-Berater des
US-Außenministeriums, und der ehemalige ukrainische
Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk hin. Mit vielen
Waffenlieferungen habe der Westen Putins „rote Linien“ längst
überschritten, ohne dass Russlands Staatschef seine Drohungen wahr gemacht habe. Sie mutmaßen: Es sei weniger Putins Kriegsrhetorik, die dem
Westen Sorge mache, als die Befürchtung, sein Regime könne durch
eine Niederlage in der Ukraine so schweren Schaden nehmen, dass Russland instabil werde. Dem stellen sie das Argument gegenüber:

Doch es ist nicht die Aufgabe des Westens, ein kriminelles Regime vor dem Fall zu schützen.

Eliot A. Cohen und Andrij Sagorodnjuk

Derartige Erwägungen hatte bereits der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj westlichen Regierungen unterstellt. Sie können kaum belegt werden. Doch eine naheliegende Mutmaßung ist: Westliche Auflagen für die Verteidigung der Ukraine stärken auch Putins Eindruck, dass es seine Regeln sind, denen der Westen sich beugt.



828 Tage


seit Beginn der russischen Invasion


Wichtigste Meldungen: Flugzeuge für die Ukraine und Angriffe auf Radarsysteme

Die ukrainische Luftwaffe kann in den kommenden Monaten und Jahren mit einer deutlichen Stärkung rechnen. Am Dienstag teilte Belgiens Regierung mit, der Ukraine bis 2028 insgesamt 30 F-16-Kampfjets liefern zu wollen. Der Umfang der schon 2023 zugesagten Lieferung aus Belgien war davor nicht bekannt. Zusammen mit den Zusagen der Niederlande, Dänemarks und Norwegens kann die Ukraine nun mit bis zu 95 Jets dieses Typs rechnen – wobei mehr als ein Dutzend davon mutmaßlich nicht einsatztauglich sind und als Ersatzteillager dienen sollen.

Die Ausbildung ukrainischer Piloten ist nach Aussagen aus Kiew und Unterstützerländern weit fortgeschritten. Schon im Sommer sollen die ersten F-16-Jets aus Dänemark in der Ukraine eintreffen. Die Maschinen sollen der Ukraine in erster Linie dabei helfen, russische Kampfbomber von der Frontlinie fernzuhalten und den Beschuss mit Gleitbomben zu verhindern. Welche Auswirkungen das auf den Krieg haben kann, hängt allerdings davon ab, wie weit die Luft-Luft-Raketen, die das Land erhält, fliegen können.

Einen gewichtigen Faktor dürfte auch die Lieferung von zwei Überwachungsflugzeugen des Typs 340 AEW spielen, die Schweden der Ukraine am Mittwoch zusagte. Es ist das erste Mal, dass die Ukraine derartige sogenannte AWACS-Flugzeuge erhält. Diese fliegenden Radarstationen können bis zu fünf Stunden in der Luft bleiben und den Luftraum bis zu 450 Kilometer weit überwachen. Sie können russische Flugzeuge und Marschflugkörper deutlich besser identifizieren, als die Geräte an Bord von Kampfflugzeugen. Die Funktionen der erwarteten F-16-Maschinen würden damit deutlich verstärkt werden, teilte Schwedens Verteidigungsminister Pål Jonson mit. Allerdings erfordern die Überwachungsflugzeuge sehr spezialisiertes Personal. Wie lange die Ausbildung dauern wird und wann es in der Ukraine eintreffen wird, ist nicht bekannt.


Schwedisches AWACS-Flugzeug des Typs Saab 340AEW im Juni 2010

Nach US-Medienberichten bereiten den USA derweil ukrainische Angriffe auf russische Radarstationen Sorgen. In der vergangenen Woche hatte die Ukraine mindestens eine Radarstation des Typs Woronesch-M bei Armawir der südrussischen Region Krasnodar mit Drohnen attackiert. Die insgesamt zehn über das gesamte Land verteilten Stationen sind Teil des russischen Früherkennungssystems für Angriffe mit Interkontinentalraketen und dienen damit der russischen Verteidigung gegen atomare Angriffe. Satellitenbilder zeigen Zerstörungen an der Station in Krasnodar, deren Umfang aber unklar ist.

Der Washington Post zufolge kritisieren US-Regierungsbeamte dieses Vorgehen. Die Angriffe machten Russland strategisch verwundbarer – und dadurch potenziell aggressiver. Die Stationen könnten zudem ukrainische Raketen im Einsatz etwa über der Krim nicht erkennen, Angriffe auf sie brächten der Ukraine keinen Vorteil. Das sehen einige ukrainische Beobachter und dem Bericht der Washington Post zufolge auch Geheimdienstler anders. Demnach würden die Stationen auch dafür eingesetzt, ukrainische Militäraktivitäten zu beobachten. Mehrere unabhängige Sicherheitsforscher zweifeln diese Darstellung jedoch an. Die Angriffe könnten Russland provozieren, ohne der Ukraine erkennbar zu helfen.


Waffenlieferungen und Militärhilfen: Panzer aus Spanien, Munition aus Tschechien

  • Spanien hat der Ukraine Militärhilfen im Wert von einer Milliarde Euro zugesichert. Der spanischen Zeitung El País zufolge will das Land bis zu 19 Leopard-2-Kampfpanzer sowie Dutzende Flugabwehrraketen für Patriot-Luftverteidigungssysteme liefern.
  • Schweden plant, der Ukraine neben den beiden Überwachungsflugzeugen auch seinen gesamten Bestand an älteren Transportpanzern des Typs Pbv 302 zu geben. Mutmaßlich hat Schweden etwa 170 solcher Fahrzeuge. Damit sollen mehrere ukrainische Bataillone ausgerüstet werden können.
  • Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat der Ukraine am Donnerstag bei einem Besuch in Odessa Militärhilfen im Wert von 500 Millionen Euro zugesichert. Dazu würden Flugabwehrraketen für die von Deutschland gelieferten Iris-T-Systeme gehören, sowie Ersatzrohre für Haubitzen und Drohnen.



Der Ostcast –
:
Überall Agenten in Georgien?


Der Ausblick: Militärausbilder für die Ukraine?

Am kommenden Donnerstag wird der ukrainische Präsident Selenskyj sich mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron treffen. Selenskyj besucht Frankreich anlässlich des 80. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Januar 1944. Der symbolische Besuch könnte laut Berichten auch Anlass für einen politischen Schritt werden: die Entsendung französischer Militärausbilder in der Ukraine.

Macron spricht bereits seit Monaten davon, die Entsendung von Soldaten in die Ukraine nicht auszuschließen. Dabei solle es sich nicht um Kampf-, sondern Ausbildungseinsätze handeln. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert Diplomaten, wonach zunächst nur eine kleine Anzahl von Personal entsandt werden soll, um Rahmenbedingungen für den Einsatz zu schaffen. Auf sie sollen mehrere Hundert Ausbilder folgen.


Rekruten einer ukrainischen Brigade trainieren am 11. Mai in der Region Donezk.

Demnach sollen sie ukrainische Soldaten in Minenräumung sowie Instandhaltung von Militärgerät schulen und Fachwissen für die Wartung von Kampfflugzeugen vermitteln. Frankreich wolle zudem eine motorisierte Brigade finanzieren, ausbilden und bewaffnen. Für die Ukraine dürften solche Einsätze eine Entlastung sein. Ähnlich wie der russischen Armee fehlen ihrem Militär nach zwei Jahren Krieg erfahrene Unteroffiziere.

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