Lage in dieser Ukraine: Selenskyjs waghalsiges Spiel

„Die Worte ‚die Ukraine muss siegen‘ sind in unserem Land selten geworden.“ Mit dieser nüchternen Feststellung begann Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch seine Rede im ukrainischen Parlament, in der er nach wochenlangen Ankündigungen jenes Dokument vorstellte, das er „Siegesplan“ nennt. 

Wer eine klare Strategie, wie die Ukraine ihre Kriegsziele erreichen will, erwartet hatte, wurde enttäuscht. Denn was der ukrainische Präsident vorstellte, ist eher eine Wunschliste an den Westen, ein vages Rahmenwerk für bessere Chancen im Krieg als ein konkreter Weg zum Frieden in naher Zeit, wie er zuvor selbst nahegelegt hatte.

Selenskyjs Plan beginnt mit drei Punkten, die sich direkt auf den Kriegsverlauf und die militärischen und diplomatischen Aussichten der Ukraine auswirken sollen:

  • Eine schnelle Einladung in die Nato (der Beitritt selbst, räumte Selenskyj ein, sei „eine Sache der Zukunft, nicht der Gegenwart“). Das solle Russlands Staatschef Wladimir Putin verdeutlichen, dass der Westen dessen beanspruchte Verfügungsgewalt über die Zukunft der Ukraine nicht anerkennt;
  • Eine strukturierte Stärkung der ukrainischen Luftverteidigung, die Einsatzerlaubnis weitreichender Waffen für Ziele in Russland und ein international koordinierter Aufbau neuer Brigaden;
  • Eine explizit nicht-nukleare Abschreckungsstrategie gegenüber Russland, die das Land vor die Wahl stellen solle, „entweder einem ehrlichen diplomatischen Prozess“ beizutreten oder „seine Kriegsmaschinerie zu verlieren“.

Mit zwei weiteren Punkten, die eher der Zeit nach dem Krieg gewidmet sind, versuchte Selenskyj gleichzeitig, dem Westen ein Angebot zu machen, das die von ihm eingeforderte Unterstützung aufwiegen solle:

  • Eine „Sondervereinbarung“ mit den USA und der EU zur Nutzung ukrainischer Ressourcen, die Selenskyj nach eigenen Worten lieber mit der „demokratischen Welt“ geteilt als von Russland erobert sehen will;
  • Eine künftige Einbindung kriegserfahrener ukrainischer Verbände in das Nato-Kontingent in Europa, wo sie nach dem Krieg US-Truppen ablösen könnten.

Und schließlich gehören drei geheime Zusatzpunkte zu dem Plan, die bestimmten Schlüsselpartnern bereits vorgelegt worden seien. Sie betreffen Selenskyj zufolge die Stärkung des ukrainischen Militärs, die vage umrissene Abschreckungsstrategie gegen Russland und wirtschaftliche Aspekte.  

Selenskyj bekräftigte in seiner Rede zwar, weiterhin eine vollständige Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete anzustreben, ließ aber offen, wie. Dementsprechend kritisch reagierten Abgeordnete auf seinen Plan: Selenskyj habe nichts vorgetragen als „Forderungen an die Partner“, bemängelte eine Politikerin der größten Oppositionsfraktion. „Wie sollen wir siegen? Die Partner werden das für uns nicht machen.“ Ein weiterer Abgeordneter bezeichnete Selenskyjs „Siegesplan“ als „eine Reihe von Losungen und nicht mehr.“ In Anspielung an die Bühnenvergangenheit des Präsidenten nannte er die Rede eine „Stand-up-Show.“

Doch es sind nicht die Abgeordneten im Parlament und die Menschen, die sie vertreten, an die der Präsident sich wendet. „Selenskyjs Appelle sind in erster Linie an Präsident (Joe) Biden und Bundeskanzler (Olaf) Scholz gerichtet“, sagte Christoph Heusgen, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz.

Die aber reagierten verhalten. Scholz bekräftigte rasch seine Ablehnung gegenüber zentralen Punkten des Plans, etwa der von Selenskyj beim EU-Gipfel in Brüssel erneuerten Anfrage nach deutschen Marschflugkörpern. Der neue Nato-Generalsekretär Mark Rutte, einer der lautesten Ukraine-Unterstützer in dem Bündnis, sagte ebenfalls, er könne nicht allen Punkten zustimmen. Und auch ein Sprecher des Weißen Hauses sagte: „Es gibt derzeit keinen Konsens darüber, der Ukraine eine (Nato-)Einladung anzubieten.“ Die derzeit gültige Formel, dass die Ukraine „in Zukunft“ Teil der Nato werden solle, bleibt somit unverbindlich.


Lage in der Ukraine: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und Nato-Generalsekretär Mark Rutte am 17. Oktober im Hauptquartier des Militärbündnisses in Brüssel. Selenskyj war dort zu Gast – und wird nach derzeitiger Nato-Strategie noch lange Gast bleiben.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und Nato-Generalsekretär Mark Rutte am 17. Oktober im Hauptquartier des Militärbündnisses in Brüssel. Selenskyj war dort zu Gast – und wird nach derzeitiger Nato-Strategie noch lange Gast bleiben.

Die vom Präsidenten geforderten Hilfen sind auch deswegen kein Siegesplan, weil sie einen Sieg nach ukrainischer Lesart – Wiederherstellung der Staatsgrenzen – nicht garantieren können. Eine mutmaßlich notwendige Bedingung sind sie jedoch für das, was nicht etwa die Ukraine, sondern der Westen selbst als Ziel seiner Unterstützung ausgibt: die Ukraine in eine starke Verhandlungsposition zu bringen, um einer Kapitulation und dem Verlust ihrer Staatlichkeit zu entgehen. 

Wenn aber Putin die Ukraine ernst genug nehmen soll, um von seinen Maximalforderungen abzulassen, dann benötigt das Land in der Tat das, was deren Präsident erbittet: Die Fähigkeit, Putins Armee nicht nur gerade so in Schach zu halten. Sondern auch, sie glaubwürdig zu bedrohen, auch auf russischem Staatsgebiet. Dasselbe gilt für den Aspekt einer Nato-Mitgliedschaft nach Ende des Kriegs: Warum sollte Putin der Ukraine ihr Recht auf Bündnisfreiheit zugestehen, wenn sogar deren größte Unterstützer sich nicht dazu bekennen? 

Selenskyjs Unterstützungsplan kann insofern auch als eine Forderung nach Klarheit verstanden werden. Denn wenn der Westen seine Ziele in der Ukraine ernsthaft verfolgen will, dann schuldet er – nicht zuletzt den eigenen Bürgern, deren Steuergeld die Militärhilfen bezahlt – einen Plan dafür. Einen solchen hat Selenskyj nach langem Warten nun selbst vorgelegt. Und sich dabei nicht an den eigenen Maximalforderungen orientiert, sondern an dem, was ihm nahezu täglich vom Westen zugesagt wird. Nicht in Bezug auf die Mittel, aber auf das Ziel.

Somit hat der ukrainische Präsident zwar keine Siegesstrategie vorgestellt, doch er hat die Karten auf den Tisch gelegt. Und geht dadurch das Risiko einer Ablehnung ein. Die Verantwortung für die dann absehbare Niederlage hätte Selenskyj damit, wohl auch mit innenpolitischen Motiven im Blick, dorthin umgelegt, wo er sie sehen will: Bei westlichen Staatschefs, die sich drei Jahre lang hinter einem „Vielleicht“ versteckten, um am Ende „Nein“ zu sagen.


Lage in der Ukraine: Ukrainische Soldaten bereiten sich am 14. Oktober auf einen Einsatz an der Front im Süden von Donezk vor.

Ukrainische Soldaten bereiten sich am 14. Oktober auf einen Einsatz an der Front im Süden von Donezk vor.



968 Tage


seit Beginn der russischen Invasion


Das Zitat: Größe überschneidet sich mit Vorsicht

Seit Kriegsbeginn hat die Ukraine aus den USA militärische, finanzielle und humanitäre Hilfen im Wert von fast 85 Milliarden Euro erhalten – so viel wie aus keinem anderen Land der Welt. An zweiter Stelle steht Deutschland: 15 Milliarden Euro umfassten bislang nach Angaben des Kieler Instituts für Weltwirtschaft die deutschen Hilfen. Dem trug der US-Präsident Rechnung, der auf die Leistungen seines Landes und der Bundesrepublik bei seinem Treffen mit Bundeskanzler Scholz hinwies:

Amerika und Deutschland sind die beiden größten Unterstützer der Ukraine.

US-Präsident Joe Biden

Diese Tatsache zeigt einen auffälligen Gegensatz: Ausgerechnet von den USA und Deutschland, denen seitens osteuropäischer Länder Zögerlichkeit vorgeworfen wird, hängt die Ukraine am stärksten ab. Die Regierungen in Washington und Berlin gelten als zentrale Bremser einer Einladung der Ukraine in die Nato.

Doch ihre politische Unterstützung, die aus ukrainischer Sicht unzureichend sein dürfte, gleichen sie mit ihrer Wirtschaftskraft aus. Und gerade die größten Befürworter eines ukrainischen Nato-Beitritts – die baltischen Staaten – können trotz Spitzenrängen beim gespendeten Anteil an ihrer Wirtschaftskraft in absoluten Zahlen kaum einen Unterschied ausmachen: Ihre Hilfen belaufen sich auf 2,1 Milliarden Euro.


Die wichtigste Meldung: Nordkoreanische Soldaten für Russlands Armee?

Nordkorea steht offenbar kurz davor, Russland erstmals nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Soldaten zu unterstützen. Mehr als 10.000 Soldaten bereiteten sich auf einen Einsatz im Ukraine-Krieg vor, sagte beim Nato-Verteidigungsministertreffen am Donnerstag Präsident Selenskyj. Schon Anfang November würden sie für den Einsatz bereit sein, warnte Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdiensts HUR, in einem Interview.

Berichten zufolge soll Wladimir Putin erwägen, die nordkoreanischen Truppen bei der russischen Gegenoffensive in der Grenzregion Kursk, wo die Ukraine im August einmarschiert ist, einzusetzen. Budanow gab hingegen an, nicht zu wissen, wohin das angeblich fast einsatzfähige Kontingent verlegt werden solle.

Nordkorea unterstützt Russland seit Monaten mit ballistischen Raketen, Abschussrampen für sie – und erheblichen Munitionslieferungen. Einigen Schätzungen zufolge soll bereits mehr als die Hälfte des russischen Verbrauchs an Artilleriemunition aus Nordkorea stammen.


Lage in der Ukraine: Nordkoreanische Sicherheitskräfte bei einem Besuch von Wladimir Putin in Pjöngjang am 19. Juni

Nordkoreanische Sicherheitskräfte bei einem Besuch von Wladimir Putin in Pjöngjang am 19. Juni

Die Nato hat Besorgnis angesichts der Berichte bekundet, Generalsekretär Rutte sagte jedoch, er könne sie bislang nicht bestätigen. Am Freitagmorgen tauchte dann ein Video auf, das eine Gruppe nordkoreanischer Soldaten auf einem Militärgelände in Russland zeigen soll, ein ukrainischer Militärblogger will es auf einen Armeestandort im Fernen Osten Russlands geolokalisiert haben, etwa 150 Kilometer von der nordkoreanischen Grenze entfernt. In Rufen, die in diesem Video zu hören sind, soll laut einem vom exilrussischen Investigativportal The Insider befragten Übersetzer mutmaßlich ein nordkoreanischer Dialekt zu hören sein. 

Doch die Angaben kommen nicht nur aus ukrainischen Quellen. Südkoreas Spionageabwehr berichtete am Freitag, rund 1.500 nordkoreanische Spezialkräfte seien auf russischen Kriegsschiffen nach Russland gebracht worden. Insgesamt wolle das Regime im Norden 12.000 Soldaten nach Russland entsenden. Die Transporte hätten bereits am 8. Oktober begonnen, teilte das Präsidentenbüro in Seoul mit. 

Die Entsendung von nordkoreanischen Soldaten wäre, sollte sie zweifelsfrei bewiesen werden, ein neuer, seit Kriegsbeginn
beispielloser Vorgang
. Zwar wirbt Russland Söldner aus dem Ausland
an, auch die Ukraine unterhält eine sogenannte Internationale Legion. Doch
Nordkorea wäre der erste Drittstaat, der gezielt ganze Kampfverbände schickt und
sich somit direkt am Krieg gegen die Ukraine beteiligt. 


Waffenlieferungen und Militärhilfen: Panzer, Flugabwehr, Artillerie

  • Australien hat der Ukraine die bisher größte Einzellieferung moderner Kampfpanzer seit Kriegsbeginn zugesagt: Das Land soll 49 Einheiten des US-Modells M1 Abrams bekommen. Von den USA erhielt die Ukraine bisher 31 Panzer dieses Typs, etwa die Hälfte davon hat sie seitdem im Kampf verloren.
  • Deutschland hat der Ukraine nach Angaben der Bundesregierung20 weitere Marder-Schützenpanzer, acht Leopard-1-Kampfpanzer sowie zwei Iris-T-Flugabwehrsysteme geliefert. Zudem schickte Deutschland sechs Panzerhaubitzen, 24.000 Schuss Artilleriemunition und Ausrüstung zur Minenräumung.
  • Die USA haben Militärhilfen im Wert von fast 400 Millionen Euro zugesagt. Sie umfassen dem US-Verteidigungsministerium zufolge vor allem Flugabwehrraketen und Munition. Wie aus einer aktualisierten Gesamtübersicht des Ministeriums hervorgeht, befindet sich nun auch das dritte von den USA im Sommer versprochene Patriot-Luftverteidigungssystem in der Ukraine.
  • Darüber hinaus hat US-Präsident Joe Biden nach einem Telefonat mit Selenskyj erhebliche Waffenlieferungen für die kommenden Monate in Aussicht gestellt. Sie sollen dutzende taktische Flugabwehrsysteme, hunderte Schützenpanzer und Truppentransporter und tausende Gefechtsfahrzeuge sowie eine „signifikante“ Menge an Munition umfassen.
  • Die Niederlande und Dänemark haben eine Bestellung von Artilleriemunition für die Ukraine angekündigt, die dem Land 2025 geliefert werden soll. Zudem bestellten die Niederlande für die Ukraine sechs moderne Haubitzen des Typs Dita aus Tschechien, teilte das Verteidigungsministerium in Den Haag mit.
  • Der kanadische Verteidigungsminister Bill Blair hat Militärhilfen im Wert von 43 Millionen Euro zugesagt. Sie umfassen Kleinwaffen, Munition und Schutzausrüstung.
  • Litauen hat der Ukraine nach eigenen Angaben die ersten 1.000 von insgesamt 5.000 bestellten Kampfdrohnen übergeben. Auch Frankreichs Verteidigungsminister Sébastien Lecornu hat für die kommenden Wochen eine Lieferung neu entwickelter Kamikaze-Drohnen angekündigt.

Lage in der Ukraine: Australischer M1-Abrams-Kampfpanzer bei einem Manöver im Juli 2021

Australischer M1-Abrams-Kampfpanzer bei einem Manöver im Juli 2021


Unterm Radar: Arbeitskraft für Drohnenbau

In Alabuga in Tatarstan werden in Russland aus vom Iran gelieferten Bauteilen Drohnen zusammengebaut, von denen täglich Dutzende die Ukraine attackieren. Oppositionelle Medien berichteten, dass für die Arbeit Berufsschüler eingesetzt würden. Wie die Nachrichtenagentur AP recherchiert hat, setzt Russland aber auch auf unfreiwillige Arbeitskräfte aus dem Ausland: etwa 200 aus 22 afrikanischen Ländern stammenden Frauen.

Sechs Frauen im Alter zwischen 18 und 22 sagten AP, sie seien unter falschen Versprechen nach Tatarstan gelockt worden. In Werbeanzeigen auf sozialen Medien seien ihnen Arbeits- und Ausbildungsprogramme versprochen worden, wofür sie nach einem Computertest und einem leichten russischen Vokabeltest Flugtickets nach Russland erhalten hätten. Stattdessen würden sie unter ausbeuterischen Bedingungen und ohne benötigte Schutzausrüstung mit ätzenden Chemikalien arbeiten.

Die Werbeanzeigen, die sie dorthin gelockt hätten, konnte AP nach eigenen Angaben zu der Sonderwirtschaftszone in Alabuga verfolgen, wo nach russischen Angaben 6.000 Drohnen im Jahr produziert werden sollen. Die Regionalregierung von Tatarstan und die meisten der Herkunftsländer der Frauen hätten Anfragen der Agentur unbeantwortet gelassen – wobei einige afrikanische Regierungen zugesagt haben sollen, den Vorwürfen nachzugehen. Eine Woche nach Veröffentlichung der AP-Recherche meldete die Agentur, dass Google, Meta und TikTok die Werbeanzeigen für Alabuga inzwischen gesperrt hätten.


Über den Tellerrand: Kursk, Verrat und Pressefreiheit

In dieser neuen Rubrik verlinken wir interessante Recherchen, Artikel und Publikationen, die es nicht in den Textteil des Wochenrückblicks geschafft haben.

  • „The Kursk Anomaly“:  Die russische Politologin Jekaterina Schulmann erklärt in einem Gastbeitrag für The Insider ihre Sicht darauf, warum Russlands Regime den ukrainischen Einmarsch in der Grenzregion Kursk politisch ignoriert.
  • The Impending Betrayal of Ukraine“: Ein Mitarbeiter des britischen Strategiethinktanks Rusi warnt in einem Aufsatz vor den möglichen Folgekosten einer unzureichenden Unterstützung der Ukraine.
  • They see journalists as pets“: Das exilrussische Onlinemedium Meduza hat recherchiert, wie die ukrainische Regierung über Telegramkanäle Einfluss auf den Informationsraum auszuüben versucht, und mit Journalisten gesprochen, die dem Präsidentenbüro vorwerfen, die Pressefreiheit zu beschneiden.

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