Kunstmesse Artissima: So klug kann man die Zeichen welcher Zeit deuten
Der künstlerische Leiter der Turiner Messe Artissima ist studierter Philosoph, sein Fachgebiet die Hermeneutik: das Handwerk der Deutung und Auslegung, auch für Kunst durchaus brauchbar. Für die Lektüre von Büchern wie Gadamers „Wahrheit und Methode“, für Kant und Schiller hat Luigi Fassi Deutsch erlernt, das er fließend spricht. In Italien, so gibt er zu verstehen, hat der Diskurs um zeitgenössische Kunst nicht annähernd den Stellenwert wie in Deutschland. Umso stärker betont er den „öffentlichen Auftrag“ der Artissima, die er in dieser Hinsicht mit der Arco in Madrid vergleicht. Nach der Biennale in Venedig hat sich die Artissima als zweitwichtigster zeitgenössischer Kunsttreffpunkt des Landes etabliert, was sie mit zahlreichen Kooperationen in der Stadt bekräftigen.
Von einer Ausstellung zur nächsten
Man eilt förmlich von einer Ausstellung zur nächsten und nimmt auch die Feier zum dreißigjährigen Bestehen der einflussreichen Fondazione Sandretto Re Rebaudengo mit. Mit diesen Verlockungen nicht genug: Ein Teilnehmer der Messe verweist auf die Trüffelsaison im Piemont, nach seiner Einschätzung ein Faktor für manchen kulinarisch ambitionierten Kunstliebhaber, die Messe sozusagen als Beifang mitzunehmen.

Die intellektuelle Ader ihres Leiters drückt sich in der Schwerpunktsetzung aus. Direkt hinter dem Eingang der als Veranstaltungsort dienenden ehemaligen Eiskunstlaufhalle – 2006 ist sie zu olympischen Ehren gelangt – kommt man geradewegs in eine Sektion mit Zeichnungen, die, wenn es dafür überhaupt eine eigene Sparte auf einer Messe für aktuelle Kunst geben soll, genauso gut irgendwo hinten links mit ein paar Kojen abgespeist werden könnte, ohne dass jemand daran Anstoß nähme.
Ein solches Opening braucht freilich Qualität, und es gibt sie. Von nervöser Energie durchwoben sind die Arbeiten auf Transparentpapier von Chloe Piene am Stand der Warschauer Galerie Szydlowski. Die Künstlerin fühlt sich mit dem Zeichenstift in die Mutter-Kind-Skulpturen von Medardo Rosso aus dem 19. Jahrhundert ein, die motivisch noch eben zu erahnen sind; elf kleine Blätter, Prädikat sehenswert (5200 bis 7300 Euro). Lohnenswert auch ein Besuch in der Koje des Hamburger Drawing Room mit Zeichnungen von Nadine Fecht. Schnörkellos gibt sie der Vieldeutigkeit des Körpers Konturen, unter anderem in der Zuschreibung des Geschlechts – wobei sich auf dem Blaupausenpapier jegliche Berührung als nuancenreiche Schattierung durchdrückt. So einfach, so reduziert, so ergiebig anzuschauen (2300 Euro).

Mit rund 170 Ausstellern präsentiert sich die Artissima mit einem seriösen, verlässlichen Angebot von Malerei, Skulptur und Installation. Fassi möchte die Zahl künftig noch etwas eindampfen. Goutiert wird die Messe von manchen Ausstellern, wie in Gesprächen mit ihnen zu hören ist, als willkommene Möglichkeit, „etwas auszuprobieren“ – soll heißen: Die Teilnahme kostet nicht so viel wie bei den Branchenführern. Punkten kann die Artissima auch mit der drastisch gesenkten Mehrwertsteuer auf Kunstwerke. Zuvor mit 22 Prozent das teuerste Land in Europa, lockt Italien seit diesem Sommer mit jetzt fünf Prozent und damit dem niedrigsten Wert.

In ihren diversen Kategorien kokettiert die Artissima mit der Zukunft in ihren Segmenten, beschwört eine „Gegenwärtige Zukunft“ oder ein „Zurück zur Zukunft“. An beide möchte man momentan eigentlich eher nicht vorbehaltlos glauben. Cristina Guerra aus Lissabon kontert sie ironisch mit einer Collage aus Wirtschaftsreportagen des spanischen Konzeptkünstlers Antoni Muntadas, die aus den Jahren 1982 bis 2006 stammt: „Selling the Future“ (43.000 Euro, Auflage von zwölf).
Bleiben wir der Einfachheit halber bei der Gegenwart. Am Abend der Preview wurden erste Umsätze vermeldet, die sich auf um die 10.000 bis 20.000 Euro belaufen. Sie bestätigen jüngste Erhebungen in Deutschland über Preismargen in ebendiesen Größen. Eine Messe wie die Artissima repräsentiert sie als realistische, nicht euphorische Erfolgsaussichten – mit Galerien wie Galatea aus São Paulo, die einen Stand mit hängenden, aus Baumwolle gestrickten Rastern von Carolina Cordeiro ausstattet; wie Matteo Cantarella aus Kopenhagen, der kluge, abstrakte und zugleich erzählerische Skulpturen der jungen Künstlerin Therese Bülow offeriert; oder auch mit einem potenteren Aussteller wie Thomas Dane aus London mit Arbeiten von Paul Pfeiffer, die den Kult um Justin Bieber persiflieren. Die Zukunft liegt hier nicht in enormen Erlösen, sondern in hartnäckiger Galeriearbeit für eine Sammlerschaft, die Kunst zu besonnenen Preisen kauft – und die ökonomische Gegenwart für sich selbst richtig zu deuten weiß.
Artissima, Oval Lingotto, Turin, bis 2. November. Der Eintritt kostet 24 Euro.
Source: faz.net