Kulturprogramm dieser EM: Der Geist des Spiels

Fußball und Kultur: Geht das überhaupt zusammen? So etwas kann nur fragen, wer Fußball noch immer als bierseliges Massenphänomen abtut. Schon immer haben auch Schöngeister aus ihrer Liebe zu diesem Sport keinen Hehl gemacht. Walter Jens wurde mit der Aussage zitiert, er werde sich, wenn er den letzten Goethe-Vers vergessen habe, immer noch an die Aufstellung des Sturms seines Jugendvereins Eimsbütteler TV erinnern. Und auch Martin Heidegger, der fernseherlose Philosoph, der zum Fußballschauen zu seinen Nachbarn ging, oder Albert Camus, der Existenzialist und Literatur-Nobelpreisträger von 1957, ließen sich vom Fußball faszinieren. Der spanische Schriftsteller Javier Marías unterstellte dem Sport gar eine den Alltag verändernde Wirkung: „Wir Fußballbegeisterten verfügen über eine zusätzliche Maßeinheit für die Zeit, über die wohl kein anderer Mensch verfügt: die alle vier Jahre stattfindenden Weltmeisterschaften.“ Erwähnen muss man hier natürlich auch die ebenfalls alle vier Jahre stattfindenden Europameisterschaften.

Die Stiftung Fußball & Kultur EURO 2024, eine Tochter der DFB-Kulturstiftung, hat für die zwischen dem 14. Juni und 14. Juli in Deutschland stattfindende Europameisterschaft der Männer ein umfangreiches Kulturprogramm zusammengestellt. Nicht nur in den zehn deutschen Städten, in deren Stadien Spiele ausgetragen werden, finden Performances, Poetry-Slams oder Ausstellungen statt. Auch in Städten wie Erfurt, Münster oder Bremen gibt es Veranstaltungen.

Origineller Vorlauf: In der Hamburger Laeiszhalle wird am 12. Mai ein Zweitligaspiel zwischen dem FC St. Pauli und dem VfL Osnabrück live von zwei Musikensembles begleitet, The Game beginnt um 13.30 Uhr.

In Düsseldorf wird am 24. Mai vor dem Schauspielhaus das Theater-Fans-Spektakel Glaube, Liebe, Fußball uraufgeführt. Gezeigt werde, so das Theater, „ein imaginäres Fußballspiel vom Einlaufen der Mannschaften bis zur Siegerehrung – gespiegelt durch die leidenschaftlichen Reaktionen der Fans, begleitet von zwei durchgeknallten Live-Kommentator:innen sowie maximal kompetenten Expert:innen am Spielfeldrand“. Auch eine Sprecherkabine für die Reporter wird aufgebaut.

In Bremen wird es auf dem Goetheplatz eine musikalische Auseinandersetzung mit den Gesängen der Fans geben: No rain!. Premiere ist am 8. Juni.

Das Maxim Gorki Theater in Berlin zeigt ab dem 14. Juni das von Juri Sternburg verfasste und von Marco Damghani inszenierte Stück Endgame 24. Aus Sicht der Kellnerin Toni wird hier das Finale der Europameisterschaft im Berliner Olympiastadion geschildert. Toni bewirtet im VIP-Bereich die Uefa-Führungselite. Unmittelbar vor Beginn des Endspiels nimmt eine Europol-Sondereinheit die gesamte Führungselite des europäischen Fußballverbandes fest und wirft ihr Bestechlichkeit vor. Die so entstehende Repräsentationslücke möchte der Boss der Uefa mit Toni füllen. Wie wird die Kellnerin sich verhalten? Das Stück gebe Anlass, über die „tiefen Gräben zwischen Basis und Elite“ im Fußball nachzudenken, schreibt das Theater.

Manuel Neukirchner, der seit 2015 als Gründungsdirektor das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund leitet, hat ein dokumentarisches Theaterstück zum Halbfinale Deutschland gegen Frankreich bei der Weltmeisterschaft 1982 geschrieben. Das Spiel vom 8. Juli 82 ist heute noch als die „Nacht von Sevilla“ in Erinnerung. Die deutsche Mannschaft gewann damals 5:4 im ersten bei einer Weltmeisterschaft ausgetragenen Elfmeterschießen. Viel mehr blieb aber ein völlig aufgedreht wirkender deutscher Torwart Toni Schumacher in Erinnerung, der den heranstürmenden französischen Spieler Patrick Battiston in der 57. Minute bei einer Abwehraktion so heftig am Kopf traf, dass dieser mehrere Minuten lang bewusstlos auf dem Feld liegen blieb. Nach dem Spiel sagte Schumacher, er sei bereit, Battiston, der bei dem Zusammenprall mehrere Zähne verloren hatte, die Jacketkronen zu bezahlen. Ein Spruch, der allgemeine Empörung auslöste, von Schumacher nach eigener Aussage aber ganz anders gemeint gewesen war – er sei erleichtert gewesen, dass nicht noch Schlimmeres passiert war. Selbst seriöse französische Sportzeitungen wie L’Équipe titelten „Toni Schumacher, Beruf Unmensch“ und setzten einen Ton, der auf ein über viele Jahrzehnte eingeübtes Muster von Spannungen zwischen Franzosen und Deutschen rekurrierte. Am 14. Mai feiert Die Nacht von Sevilla – Fußballdrama in fünf Akten Premiere bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Der Schauspieler und Schalke-Fan Peter Lohmeyer, der 2003 eine Hauptrolle in Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern spielte, übernimmt die szenische Lesung. Unterstützt wird er dabei von Toni Schumacher höchstselbst.

Kann man die Erfahrungen, die Fußballfans im Stadion machen, an Orten der ästhetischen Auseinandersetzung bearbeiten, unterwandern, vertiefen? Das Kulturprogramm der EM wird es versuchen. Ob Camus oder Heidegger sich dafür interessiert hätten? Wer weiß. Aber vermutlich schon. Camus hat in seinem Roman Der Fall (1956) geschrieben: „Nur im Fußballstadion und im Theater kann ich mich noch völlig unschuldig fühlen.“ Die Unschuld haben das Theater wie auch der Fußball längst verloren. Aber ihre Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen und den Saal beziehungsweise das Stadion in Erregung zu versetzen, haben sie nicht eingebüßt.

Weitere Informationen zum umfangreichen Kulturprogramm rund um die Fußball-Europameisterschaft unter https://stiftung.fussball-und-kultur2024.eu