Krisenmanagement: Warum sich Deutschland nicht verändern will
Die Stimmung im Land ist schlecht und die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage enorm. Selten waren der
Pessimismus so tiefgreifend und die Ängste und Sorgen vieler Menschen so groß.
Diese Depression ist in Deutschland höher als in fast jedem anderen
europäischen Land, selbst höher als in Italien oder Griechenland, wo die
Menschen in den letzten 20 Jahre einen erheblichen Verlust an Wohlstand
erfahren haben und die junge Generation häufig ohne Job und ohne Perspektive dasteht.
Im Gegensatz dazu hat Deutschland heute Rekordbeschäftigung, eine niedrige
Arbeitslosenquote, deutlich gestiegene Realeinkommen in fast allen
Bevölkerungsgruppen und viele wettbewerbsfähige und innovative mittelständische
Unternehmen. Und auch wenn die Zukunftssorgen und Ängste – über den
Klimawandel, soziale und geopolitische Konflikte und den eigenen Wohlstand –
berechtigt sind, so stehen objektiv gesehen andere westliche Demokratien meist vor
noch größeren Herausforderungen.
Warum also ist gerade in
Deutschland die Lähmung so stark? Wieso sind wir Deutschen so unwillig oder
unfähig, uns zu ändern und Probleme und Krisen unserer Zeit anzugehen? Die
Antwort liegt in sechs Fehleinschätzungen, die auf uns Deutsche in besonderer
Art und Weise zutreffen.
Opfer des eigenen Erfolgs – wir müssen uns nicht ändern
Kaum eine westliche Demokratie kann
wirtschaftlich ein solch erfolgreiches Jahrzehnt der 2010er-Jahre vorweisen wie
die Bundesrepublik. Unser Wirtschaftsmodell profitierte vom starken Wachstum der
Schwellenländer wie China, die für Deutschland weniger Wettbewerber waren als
vielmehr Importeure deutscher Maschinen, Chemieprodukte und Autos.
Mit Wehmut schauen wir auf dieses
goldene Jahrzehnt und lehnen Veränderungen ab, weil wir ja eigentlich nur den Status quo ante 2018 zementieren wollen. Dies ist jedoch keine Option: Die Welt
heute ist technologisch, wirtschaftlich und politisch eine völlig andere.
Handelskonflikte, Pandemie, Krieg, die Möglichkeiten der grünen Technologien
und der Digitalisierung haben die Welt grundlegend verändert.
Leider ist es historisch so, dass
liberale Demokratien meist erst dann den Willen für tiefgreifende Veränderungen
aufbringen, wenn sie im Krisenmodus mit dem Rücken zur Wand stehen. Möglicherweise
muss die wirtschaftliche Situation in Deutschland noch deutlich schlechter
werden, bevor dieses Bewusstsein stark genug ist, um ein konsequentes Handeln
auszulösen. So zumindest lehrt es uns die Krise um die Jahrtausendwende.
Erinnern wir uns an die sogenannte Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog: „Was ist los mit unserem Land?
Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der
Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte
der Krise.“ Diese Beschreibung aus dem Jahr 1997 trifft auf Deutschland
heute nicht weniger gut zu als vor 27 Jahren. Der Tiefpunkt Deutschlands als
kranker Mann Europas mit mehr als 5 Millionen Arbeitslosen war erst 2005
erreicht, bevor die ersten Reformen aus der Agenda 2010 wirkten.
Stabilität versus Geschwindigkeit – wir sollten uns nicht ändern
Aber sollten wir uns überhaupt
ändern? Ein breiter Konsens besteht darin, dass die Industrie das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft ist und dies auch in Zukunft bleiben solle. Wir wollen daher auf
gar keinen Fall eine Deindustrialisierung. Die Industrie schaffe viele
gute Arbeitsplätze in Deutschland und trage durch ihre hohe Innovationskraft zur
Attraktivität des Wirtschaftsstandorts bei, ist immer noch die verbreitete Ansicht.