Krise wohnhaft bei Bosch: „Eine übrig Jahre gewachsene Zugehörigkeit zerbricht ohne Rest durch zwei teilbar“
In Waiblingen protestieren Bosch-Mitarbeiter gegen die Schließung der Fabrik für Steckverbinder. Die Stimmung ist kämpferisch, hinter einem Unimog laufen die Werker durch den Regen, skandieren ihre Parolen und schmähen Stefan Hartung, den Vorsitzenden der Geschäftsführung des Konzerns. Hundert Meter hinter der Spitze läuft ein Mann, Anfang, Mitte 50. Die graue Wollmütze tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Taschen vergraben, Kaugummi kauend. Sein Arbeitsplatz wird wie der vieler anderer Kollegen gestrichen, so hat es der größte Autozulieferer der Welt beschlossen. Reden will er nicht. „Wozu?“, fragt er. „Schlecht sieht es aus. Woher sollen denn auf einmal 600 Arbeitsplätze kommen?“
Auch Florian Lang-Melzian ist vor wenigen Wochen bei dem Protestzug mitgelaufen. Er arbeitet nicht in der Waiblinger Fabrik, deren Produktion Ende 2028 auslaufen soll, sondern in einem der traditionsreichsten Werke des Bosch -Konzerns: dem Werk in Stuttgart-Feuerbach. „Das Ding ist, dass man die Sache nicht mehr selbst in der Hand hat. Der Kontrollverlust macht einen fertig“, sagt Lang-Melzian über die abweisende Reaktion des Waiblinger Kollegen. „Normalerweise läuft es so, dass man zur Arbeit geht, seinen Job macht und, wenn es gut läuft, befördert wird. Diese Sicherheit gibt es nicht mehr.“

Es ist eine Situation, die zurzeit Tausende von Menschen bei Bosch durchleiden. 22.000 Stellen will Bosch allein in der Autosparte streichen, zählt man die Arbeitsplätze dazu, die der Konzern bei Hausgeräten und Elektrowerkzeugen zusätzlich abbaut, summiert sich die Zahl auf fast 28.000. Die betroffenen Mitarbeiter bangen, hoffen, fluchen. „Viele haben andauernd ihr Handy in der Hand, lesen praktisch jeden Artikel, den es über Bosch, die Wirtschaft, das Verbrennerverbot gibt. Das sind alles Bewältigungsstrategien, um mit der Lage irgendwie zurechtzukommen.“
Florian Lang-Melzian hat sich eine Art professionelle Gelassenheit angewöhnt, wenn er über seinen Job und über die in den vergangenen Jahren immer größer gewordene Unsicherheit spricht. „Ich bin verheiratet, habe keine Kinder, keine Wohnung oder Haus finanziert, ich bin finanziell so unabhängig, wie man das als abhängig Beschäftigter sein kann“, sagt der 34 Jahre alte Ingenieur. „Ich habe eine Ausbildung, ein Studium und kann mir vorstellen, auch was komplett anderes zu machen.“
Auch Vater und Onkel sind „Boschler“
Und: Noch schließt eine Vereinbarung betriebsbedingte Kündigungen bis 2029 aus. „Stand heute“, fügt Lang-Melzian an. Und trotz aller Abgeklärtheit, die Tristesse über die Lage „beim Bosch“, wie die Menschen in Stuttgart schnoddrig sagen, ist aus jedem Satz herauszuhören. Florian Lang-Melzian arbeitet seit 2012 für Bosch, zuerst als Werkstudent, seit 2015 dann als Entwicklungsingenieur. Auch Vater und Onkel sind „Boschler“. Geboren im Robert-Bosch-Krankenhaus, aufgewachsen in Stuttgart-Stammheim, ist Florian Lang-Melzian an einem Tag der offenen Tür „in den Chef meines Onkels hingelaufen“, der ihm die Möglichkeit eröffnet habe, fast während seines gesamten Studiums bei Bosch zu arbeiten.
Schon während seiner Ausbildung zum Werkstoffprüfer beim Germanischen Lloyd hat er aus dem Fenster der Berufsschule auf das Werk in Feuerbach geschaut. „Eine gute Adresse mit sicheren Arbeitsplätzen“, das ist Bosch für Lang-Melzian immer gewesen. Eine Gewissheit, die mehr und mehr bröckelt.
Angefangen haben die Veränderungen aus Sicht des Stuttgarters mit der Aufdeckung der Manipulationen zur Umgehung gesetzlicher Abgas-Grenzwerte, in die auch Bosch verwickelt war. „Ich gehörte zu den Letzten, die Bosch noch vor dem Dieselgate fest eingestellt hat – und in den Jahren danach hat man angefangen, zu sparen, zu restrukturieren, zu konsolidieren“, sagt er. „Das war ungewohnt und neu.“ Es sei um Arbeitsverdichtung und Effizienz gegangen, immer wieder habe Bosch die Teams neu zusammengestellt – und vor allem schon damals „die Tür offen gelassen“. Florian Lang-Melzian meint damit, dass Bosch die Mitarbeiter, die gehen wollten, nicht zurückgehalten hat.

Da war die Welt noch in Ordnung, doch die Erschütterungen spürten die Boschler mehr und mehr. „Es war die Zeit der Talkshows, in der einem jeder vorgebetet hat, wie es laufen wird“, erzählt Lang-Melzian mit Blick auf eine viel zitierte Rechnung: Wenn ein Unternehmen für Dieselantriebe zehn Leute braucht, sind es bei Benzinmotoren acht und bei Wasserstoffsystemen fünf Mitarbeiter. Und für batterieelektrische Antriebe sei nur noch ein Werker nötig. „Das ist ja sehr einfach, einmal bis zehn durchzählen – und der Letzte darf bleiben“, sagt er. „Da wird einem schnell bewusst, dass sich da etwas ankündigt.“
Florian Lang-Melzian sitzt in seinem Wohnzimmer am Frühstückstisch. Hinter ihm ein Ikea-Regal voller Spiele. „Die Siedler von Catan“ neben „Activity“ und „Torres“. Er trägt ein blaues T-Shirt unter dem Bosch-Schriftzug das berühmte Motto des Unternehmens: „Technik fürs Leben“. „Die Lage war angespannt, das hat jeder gespürt, aber wir haben halt auch gesehen, dass sich das Unternehmen bewegt“, sagt der Stuttgarter und streicht Butter auf sein Brötchen.
Bosch investiert Milliarden in die Elektromobilität, in das automatisierte Fahren, in Brennstoffzellen und in Wasserstofftechnik. Das Unternehmen baut neue Bereiche auf und entwickelt neue Produkte. Lang-Melzian und seine Kollegen gehen davon aus, dass sie künftig eben nicht Komponenten für Dieselmotoren prüfen, sondern Bauteile für Elektroantriebe, für Wasserstoffsysteme und Brennstoffzellen.
Gedreht hat sich die Stimmung endgültig in den Monaten um den Jahreswechsel 2023/24. Da setzte sich in weiten Teilen der Bosch-Belegschaft die Erkenntnis durch, dass die neuen Geschäftsfelder nichts oder viel zu wenig zum Gewinn beitragen, dass die Bereiche, an denen für so viele Boschler die Zukunft hängt, weiter Geld verbrennen. Hintergrund ist, dass der Bosch-Konzern auf große Stückzahlen angewiesen ist und nur dann kostengünstig produzieren und aufwendige Entwicklungen gegenfinanzieren kann. Doch die Bestellungen für die neu entwickelte Technik kommen nur spärlich bei Bosch an.
Erste Welle: 3200 Stellen weniger
Florian Lang-Melzian schweigt einen Moment und wägt die Worte genau, mit denen er die Stimmung in diesen Wochen unter den Kollegen beschreibt. Nervosität, Verunsicherung, Angst, das hätten viele Mitarbeiter gespürt. „Man hat es auch an den Betriebsversammlungen gemerkt, früher sind die Hallen leer gewesen – und auf einmal waren sie brechend voll“, sagt Lang-Melzian. In einer ersten Welle kündigt Bosch den Abbau von 3200 Stellen an.
Zu einer Protestaktion auf der Schillerhöhe vor der Zentrale versammeln sich im Frühjahr 2024 mehr als 10.000 Boschler, bundesweit demonstrieren rund 25.000 Menschen an verschiedenen Standorten gegen die Sparpläne – für Bosch sehr ungewöhnlich. Bislang hat das Unternehmen Konflikte mit der Belegschaft zumeist geräuschlos befriedet.
Den Spruch „Schaff’sch beim Bosch, hält’sch dei Gosch“ kennt in Stuttgart jeder. Nun ist der Ton ruppig, kämpferisch – zumindest von den Sprechern auf der Bühne. Viele Mitarbeiter dagegen sind bestürzt und fassungslos, sie kritisieren die Kompromisslosigkeit und die neue Härte. „Wenn wir früher in einer Krise waren, dann haben wir gemeinsam auf Lohn verzichtet und haben die gesamte Mannschaft mitgenommen“, sagt ein Entwickler, der seit 26 Jahren bei Bosch arbeitet, bei der Demonstration.
Immer neuen Stellenabbau-Ankündigungen
In schwierigen Verhandlungen einigen sich Unternehmen und Betriebsrat auf Gehaltseinbußen und einen Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen. Zudem entsteht die Perspektive, dass überzählige Mitarbeiter aus der Antriebstechnik zur Automobilelektronik, zu den Hausgeräten oder Elektrowerkzeugen wechseln sollen. „In der Zeit gab es im Großraum Stuttgart immer noch so 700 bis 800 offene Stellen bei Bosch“, sagt Florian Lang-Melzian. „Da hat man sich gesagt: Bevor wir extern Leute holen, vermitteln wir doch erst mal unsere Mitarbeiter auf die Stellen.“
In den Monaten nach der Großdemonstration folgen der ersten Abbau-Ankündigung weitere: im November 2024, im April und Juli 2025 – und dann der Schock im September 2025, als Bosch den Plan bekannt gibt, weitere 13.000 Stellen zu streichen. Die Ankündigungen betreffen nicht mehr nur die Geschäftsbereiche, die sich mit der Transformation der Antriebstechnik beschäftigen. „Es ging eine komplette Welle durch den Konzern, und das hat nicht alles etwas mit dem Verbrennerthema zu tun“, sagt Lang-Melzian mit Blick auf die Standorte in Leinfelden und Reutlingen, in Schwäbisch Gmünd, Bretten und Waiblingen. Dort entstehen Bohrmaschinen, elektrische Steuergeräte, Lenkungen, Backöfen und Kabelstecker. „Auf einmal hat dieses Konstrukt, dass wir unsere Leute zu Bereichen verschieben, die aufnehmen, nicht mehr funktioniert.“
Auch wenn die Demonstration auf der Schillerhöhe der größte Mitarbeiterprotest in der Geschichte von Bosch war, wenn Mitarbeiter an einzelnen Standorten mit Mahnwachen, symbolischen Grabfeldern und Protestmärschen gegen die Abbaupläne kämpfen, ist die vorherrschende Stimmungslage in der Belegschaft eine andere: resigniert, niedergeschlagen. „Es gibt Kollegen, die fressen das alles in sich herein, sie nehmen die schlechte Stimmung mit nach Hause“, sagt Florian Lang-Melzian. Beziehungen gingen in die Brüche, es gebe Scheidungen. Von Kollegen, die wegen einer Entlassung ihr Haus oder ihre Wohnung verloren haben, hat er jedoch noch nicht gehört. „Aber wir haben ja auch noch keine betriebsbedingten Kündigungen.“
Die Resignation vermische sich nun auch noch mit der politischen Großwetterlage, wie Florian Lang-Melzian die Gefühlslage beschreibt. „Wir sind zu teuer, der Strom ist zu teuer, der Standort ist nicht wirtschaftlich. Man hat mehr und mehr das Gefühl, dass man uns hier nicht mehr will und dass das Management gar nicht anders kann, als Stellen in Deutschland abzubauen.“Symbol ist für viele die Übernahme des Heizungs-, Lüftungs- und Klimatechnikgeschäfts vom US-Unternehmen Johnson Controls: Es ist der größte Zukauf von Bosch in der Geschichte – und er hat nichts mit dem Automobilgeschäft zu tun. Die Übernahme stärkt die Position von Bosch in Märkten, die weit von Stuttgart-Feuerbach entfernt liegen.
36-Stunden-Mahnwache vor dem Werk Feuerbach
Anfang Dezember trifft sich Florian Lang-Melzian mit Kollegen bei der 36-Stunden-Mahnwache vor Tor 1 des Werks Feuerbach. Tonnenfeuer brennen, Autofahrer hupen aus Solidarität. Es ist kalt, auf einem Grabstein am Straßenrand stehen die Worte: „Hier liegen die Bosch-Werte und die Wertschätzung. Opfer des Profits.“ Die Stimmung ist angespannt. „Ich bin jetzt seit 25 Jahren im Unternehmen, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich schaue in die Gesichter meiner Kollegen und sehe Perspektivlosigkeit“, sagt Bosch-Betriebsrat Andreas Koelpin. Die Arbeitnehmervertreter von Porsche und von Mahle haben Abordnungen geschickt. Die IG Metall ist prominent vertreten.
Auch Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hört sich die kämpferischen Reden an und appelliert an Bosch-Lenker Stefan Hartung. „Wenn nicht alles läuft, einfach nur Stellen abzubauen, ist das enttäuschend.“ Doch Hermann kritisiert auch die Forderungen der Bosch-Werker, das Verbrenner-Aus aufzuweichen. „Zu oft hat der Ruf nach Technologie-Offenheit nur den Sinn, notwendige Entscheidungen zu verschleppen.“
Tage später an seinem Frühstückstisch in einem Mehrfamilienhaus in Stuttgart-Mönchfeld schüttelt Florian Lang-Melzian den Kopf über solche Vorwürfe. „Wenn Politiker sagen, dass Unternehmen wie Bosch den Wandel verschlafen, dann ist das zynisch“, sagt er. „Wir machen seit sechs Jahren nichts anderes als Wandel.“ Alles, was gerade bei Bosch passiere, nur auf die Transformation beim Antrieb zu schieben, sei nicht die Wahrheit. Bei der Mahnwache hatte der Ingenieur noch auf das Feuerbacher Werk gezeigt und erzählt, dass dort Produktionslinien für Brennstoffzellen stehen. Alle eingemottet wegen fehlender Aufträge. Für viele Werker von Bosch in Feuerbach ist das Stillstehen dieser Anlagen das sichtbarste Zeiten der Krise.

Bei der katholischen Betriebsseelsorge kommen die Sorgen der Mitarbeiter des größten Autozulieferers der Welt am unmittelbarsten an. „Ich erlebe Menschen, die noch gar nicht verinnerlicht haben, was da gerade passiert, auf welche Veränderungen die Automobilbranche und Bosch zusteuern und welcher Kulturbruch in dem Unternehmen damit verbunden ist“, sagt Diakon Michael Görg der F.A.Z. Und er erlebe Menschen, die völlig verzweifelt seien, für die eine Welt zusammenbreche. „Sie haben große Zukunftsängste, weil sie gerade ein Häuschen gekauft oder in eine Wohnung investiert haben und sich die Optionen reduzieren, in dieser Zeit zu einem anderen Arbeitgeber zu wechseln“, sagt Görg.
Noch etwas erlebt der Diakon. In dem Unternehmen, das so stolz auf seine soziale Verantwortung gegenüber den Beschäftigten ist, stolz auf den Bosch-Weg, der auch in Krise gelebt wird, stehe das zur Disposition, was lange identitätsstiftend war. „Es zerbricht gerade ein Zugehörigkeitsgefühl, das über die Jahre gewachsen ist. Die Mitarbeiter verstehen sich als Teil der Bosch-Familie. Das Management hat diese Zugehörigkeit aufgekündigt“, sagt Görg. „Ich vermisse ein Zeichen vom Management, dass auch dort verzichtet wird, damit das Unternehmen durch die schwierigen Zeiten kommt und möglichst viele Mitarbeiter an Bord bleiben können.“
Auch Michael Görg war bei den Protesten auf der Schillerhöhe dabei. Die Demonstration sei der Umbruchmoment gewesen, da hätten auf einmal Mitarbeiter ihren Unmut gezeigt, die noch nie auf der Straße gewesen wären. „Es fehlt ein Zeichen der Hoffnung, eine Vision für die Menschen, dass das Unternehmen den Standort Deutschland wieder stärkt und weiterhin auf die Boschler hier baut, wenn die Krise durchstanden ist – und nicht in Standorte im Ausland investiert, wenn die Geschäfte wieder laufen“, sagt der Seelsorger. „Dass das nicht kommt, ist ein Schlag vor den Kopf, das ist ein unwürdiger Umgang mit den Mitarbeitern, die viele Jahre für den Erfolg von Bosch gearbeitet haben.“
Auf die Frage, wie das Unternehmen selbst der Verunsicherung und der Angst der Belegschaft begegne, heißt es, dass man vor allem auf Transparenz setze. „Wir verstehen die Sorgen unserer Mitarbeiter und nehmen diese ernst“, sagt eine Sprecherin. „Für diese Phase der andauernden Umbrüche ist uns ein enger Kontakt zwischen Mitarbeitern und Führungskräften enorm wichtig – deshalb haben wir uns auch in dieser Situation entschlossen, die Kostenlücke transparent offenzulegen und sehr zeitnah auch zu konkreten Maßnahmen zu informieren.“ Das Ziel sei, die Zeit der Unsicherheit durch zeitnahe Einigungen möglichst kurz zu halten. Hört man sich allerdings beim Betriebsrat um, versuchen die Verhandlungsführer aus dem Management vor allem zu erreichen, dass schon vor 2029 betriebsbedingte Kündigungen möglich werden.
Florian Lang-Melzians Vater ist schon einige Zeit im Ruhestand. „Er hat sich damals riesig gefreut, dass ich beim Bosch angefangen habe“, sagt der Sohn. Er erzählt, wie das Unternehmen seinen Vater, der nach einem Verkehrsunfall gehbehindert war, unterstützt hat. Werksarzt und Betriebsrat hätten sich darum gekümmert, dass er einen Job bekommt, den er im Sitzen erledigen kann. „Der Bosch hat eine gute Lösung für ihn gefunden“, sagt Lang-Melzian nachdenklich. „Ob das heute noch möglich wäre? Das ist die große Frage.“ Und was macht der Onkel, der noch arbeitet? Der fluche viel.