Krise in Frankreich: Die Explosivität des Haushaltsstreits war prognostizierbar
Sie habe die Bürger vor einem „toxischen“ Haushalt bewahrt, erklärte Marine Le Pen am Mittwochabend. Ihre Entscheidung zum Regierungssturz begründete die Rechtspopulistin mit der Notwendigkeit, „die Franzosen zu schützen“. Dabei hätte es genügt, hätte Premier Michel Barnier nicht „auf die Rentner eingeprügelt“; hätte er die Bezüge regulär zum 1. Januar und nicht erst ein halbes Jahr später an die Inflation angepasst, hätte er nicht rund 3,6 Milliarden Euro bei den Rentnern einzusparen versucht, wäre alles ganz anders gekommen, so Le Pen.
Die Fülle an vorherigen Zugeständnissen – Verzicht auf eine höhere Stromsteuer, Verzicht auf eine höhere Eigenbeteiligung für Medikamente, Einschränkung der Krankenversorgung für Migranten ohne gültigen Aufenthaltsstatus – genügten ihr nicht. Auf Regierungsseite reifte die Erkenntnis: Es ging Le Pen nie um eine Einigung, sie wollte den Sturz. Und das trotz des Risikos, mit diesem Schritt ihr jahrelang gepflegtes Image zu beschädigen, eine vermeintlich staatstragende, bürgerliche Alternative zu sein.
Mit einem so schnellen Aus für die Barniers Minderheitsregierung hatte vor wenigen Tagen in Paris kaum einer gerechnet. Dabei war seit Langem klar, dass die Debatte um den Haushalt für 2025 politisch explosiv wird. Schon in der Vorgängerregierung stellte man sich auf ein Hauen und Stechen um einzelne Milliarden ein, tobt doch längst ein Verteilungskampf angesichts von schwacher Wirtschaftslage und wachsender Schuldenlast.
Geschwächte Verhandlungsposition
Im laufenden Haushalt belaufen sich die Verbindlichkeiten auf mehr als 50 Milliarden Euro. Da die Zinsen kräftig gestiegen sind, wird über die kommenden drei Jahre ein Anstieg des Schuldendiensts auf 80 Milliarden Euro erwartet. Das ist so viel, wie der französische Staat für Militär und Polizei zusammen ausgibt. Ausgabenspielräume gibt es damit praktisch keine. Der Schuldenberg ist mit rund 3,2 Billionen Euro der höchste Europas, und auch die Neuverschuldung steigt und steigt. Seit Kurzem beleuchtet ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, warum die Defizitprognosen in den vergangenen Monaten immer weiter nach oben korrigiert werden mussten.
Vor der Haushaltsdebatte ging es im Grunde nur noch um die Frage, in welchem Maße im neuen Haushalt gespart oder an der Steuerschraube gedreht wird, um der galoppierenden Neuverschuldung irgendwie Herr zu werden. Barnier schlug in seinem rund 60 Milliarden Euro schweren Sparpaket einen Mix aus geringeren Ausgaben und höheren Einnahmen vor. Ohne Gegensteuern erwartete er eine Neuverschuldung von sieben Prozent im kommenden Jahr, mehr als doppelt so viel wie der Maastrichter Referenzwert erlaubt.
Doch schon regierungsintern gingen die Meinungen über das die geplanten Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen auseinander. Zuletzt nahmen vor allem die Störfeuer aus dem Präsidentenlager zu, wo man vor einer steigenden Abgabenlast für Unternehmen warnte und um die Früchte der jahrelangen Angebotspolitik fürchtete. Mit Gegenvorschlägen, wie sich anderweitig auf die Schnelle die Milliardenlöcher im Haushalt stopfen ließen, tat man sich schwerer. Der eingeschränkte Rückhalt aus den eigenen Reihen schwächte Barniers Verhandlungsposition gegenüber dem Parlament zusätzlich.
Am seidenen Faden
In seiner Abschlussrede am Mittwochabend erklärte der Premier, dass auch er es vorgezogen hätte, „Geld zu verteilen“. Doch Frankreich habe nun mal keines. „Diese Realität bleibt bestehen, sie wird nicht durch die Zauberei eines Misstrauensantrags verschwinden“, mahnte Barnier, begleitet von Zwischenrufen der linken Opposition, die die zerrütteten Staatsfinanzen mit höheren Abgaben für Gutverdiener und Unternehmen in Ordnung bringen will.
An der Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung führt kein Weg vorbei, wen auch immer Präsident Emmanuel Macron nun zum Premier ernennt. Sollte das Parlament ein Sondergesetz verabschieden, mit dem der laufende Haushalt einfach fortgeschrieben wird, dürfte sich das Defizit im kommenden Jahr auf mehr als sechs Prozent belaufen. Ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission wäre damit sehr wahrscheinlich. Doch die Vorgaben aus Brüssel werden in Paris schon lange geflissentlich ignoriert.
Viel bedeutsamer ist die Reaktion des Anleihemarkts, der das Haushaltsgebaren der zweitgrößten EU-Volkswirtschaft zunehmend kritisch sieht. Barnier hatte vor „schweren Turbulenzen“ gewarnt, sollten die Haushaltspläne und seine Regierung scheitern. Am Donnerstagmorgen war davon noch nicht viel zu spüren. Am Anleihemarkt sank der Risikoaufschlag auf französische Staatsanleihen im Vergleich zu den als sehr sicher geltenden Bundesanleihen gar leicht. Anleger hatten den Regierungssturz offenbar längst eingepreist.
Doch das Vertrauen der Märkte hängt am seidenen Faden. Die Griechenland-Vergleiche häufen sich, auch wenn Frankreich über funktionierende Institutionen verfügt und es bislang keine Hinweise auf eine geschönte Schuldenstatistik gibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Haushaltskonsolidierung gelingt, sei gesunken, urteilte die Ratingagentur Moody’s noch in der Nacht auf Donnerstag. Sie sah die „politische Pattsituation“ durch den Regierungssturz verschärft.
„Dieses Ereignis ist schlecht für die Kreditwürdigkeit“, stellte Moody’s unmissverständlich klar. Auch die Ratingagentur S&P setzte am Donnerstag Fragezeichen hinter den Konsolidierungserfolg, wenngleich sie die Stärke der französischen Wirtschaft, die hohen Ersparnisse des Privatsektors und die Liquidität des Finanzsektors hervorhob. Befürchtet werden zudem wirtschaftliche Schäden durch die politische Instabilität, etwa weil manche Unternehmen durch die wackelige Steuergesetzgebung nicht wissen, ob sich Investitionen rechnen.