„Kriegstreiber!“: Eine Demokratie muss Störenfriede tolerieren

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) war genervt. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Leipzig wollte er an einem „ungezwungenen Austausch zwischen Politik und Bürgern“ teilnehmen, aber immer wieder wurde er von lautstarken Aktivisten unterbrochen, die ihn als Kriegstreiber und Heuchler bezeichneten. Pistorius hielt das für ein Zeichen mangelnder Demokratiefähigkeit bei den Protestierenden und verstieg sich zu der Aussage, wenn das die Zukunft der Demokratie sei, dann „Gute Nacht!“.

Eingebetteter Medieninhalt

Dergleichen passiert bei Parteiveranstaltungen immer häufiger. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) musste jüngst Ähnliches über sich ergehen lassen. Auch im Ausland werden Unterbrechungen dieser Art häufiger, etwa wenn eine Veranstaltung der ÖVP in Wien zur Klimapolitik eine halbe Stunde lang nicht planmäßig fortgesetzt werden kann, weil Aktivisten der Letzten Generation die Podiumsdiskussion durch Zwischenrufe unterbrechen.

Asymmetrie politischer Kommunikation

Wer zu solchen Veranstaltungen kommt, um sich zu informieren, kritische Fragen zu stellen oder auch politische Einigkeit mit dem Führungspersonal der eigenen Partei zu demonstrieren, mag sich genervt fühlen. Aber sind diese Störungen wirklich ein Zeichen für das Ende der Demokratie? Setzt Demokratie voraus, dass man einander zuhört, dass man Spielregeln einhält – was hier bedeutet, dass man die Ministerin oder den Minister ausreden lässt und allenfalls eine kritische Frage stellt, die allzu oft mit Phrasen beiseite gewischt wird?

Wer meint, Demokratie bedeute, dass jeder ausreden kann und dabei nicht von wütenden Protesten gestört werden soll, verkennt, dass es eine grundsätzliche Asymmetrie in der politischen Kommunikation gibt: Die einen sitzen im Scheinwerferlicht auf den Podien und haben Mikrofone in der Hand, die anderen sitzen unten im Halbdunkel und haben nur ihre Stimme. Die einen können ihre Sicht der Dinge täglich im Fernsehen und in Zeitungen verbreiten, die anderen haben nur den Moment. Zur Demokratie gehört aber, dass gerade in Krisenmomenten, in denen Politik auf Entwicklungen reagiert, die am Wahltag nicht abzusehen waren, die Leute lautstark ihren Unmut loswerden können, und zwar so, dass er von denen, die regieren, nicht überhört werden kann.

Jürgen Habermas: Störung der Routine

Wer da fordert, dass man sich an die Regeln des Veranstalters hält, wer gar meint, es sei das Ende der Demokratie, wenn Aktivisten zu Störenfrieden werden, will sich vielleicht nur immunisieren, um ungestört weiter das machen zu können, was er für richtig hält.

Schon Jürgen Habermas hat in Faktizität und Geltung die „illegitime Verselbständigung von administrativer und sozialer Macht“ beklagt und den „peripheren Strukturen der Meinungsbildung“ die Aufgabe zugeschrieben, den Routinemodus des politischen Systems „auf eine zugleich Aufmerksamkeit erregende und innovative Weise“ zu stören.

Man könnte einwenden, dass die einzelnen Aktivisten, die da stören, doch aber nicht das Volk sind, dass sie eben keine Mehrheit repräsentieren. Das ist richtig. Aber sie ergreifen die Gelegenheit der politischen Beteiligung, eine Möglichkeit, die jedem offensteht. Sie erzeugen den öffentlichen Impuls, der die Politik aus ihrem ungestörten Lauf bringt und sie zwingt, zu prüfen, ob das, was sie tut, beim Demos überhaupt auf Akzeptanz trifft. Störenfriede helfen dem Erhalt der Demokratie weit mehr als die, die zu Hause über die Politik wettern und am Ende radikal wählen, statt durch einen lauten Zwischenruf ihrem Unmut Luft zu machen.

Jörg Phil Friedrich hat zuletzt Die postoptimistische Gesellschaft sowie Degenerierte Vernunft. Künstliche Intelligenz und die Natur des Denkens veröffentlicht. In diesem September erscheint im Claudius Verlag sein neues Buch Richtig streiten (136 S., 20 €)