Konfliktforscher zu Gaza-Demos: „Die Polizei geht in Neukölln ohne wenn und aber härter vor“

Mehrfach klagten propalästinensische Demonstrant*innen über Polizeigewalt, die sie auf Gaza-Demos erlebt hätten. Alles Einzelfälle? Keineswegs, sagt der Konfliktforscher Jannis Julien Grimm, der seit zwei Jahren die Proteste beobachtet. Die Untersuchung seines Teams zeigt: Insbesondere die Hauptstadt ist zum Brennpunkt einer repressiven Polizeipolitik geworden, die immer häufiger Grundrechte infrage stellt. Im Interview mit der Freitag erklärt Grimm, was hinter der Eskalation steckt – und warum sie gefährlich für die Demokratie ist.

der Freitag: In Berlin wurden jüngst die Linke-Abgeordneten Lea Reisner und Cem Ince bei propalästinensischen Demonstrationen von Polizisten geschlagen – als parlamentarische Beobachter. Was zeigen diese Vorfälle über den Umgang mit der Protestbewegung?

Jannis Julien Grimm: Polizeigewalt wird immer dann diskutiert, wenn sie sich in besonders symbolträchtigen Aufnahmen zeigt. Das war bei den Linke-Abgeordneten der Fall, denen von Beamten ins Gesicht geschlagen wurde. Ebenso bei der irischen Aktivistin Kitty O’Brien, der Mitte August vor laufender Kamera zweimal ins Gesicht geschlagen wurde. Das hatte damals eine Protestnote des irischen Botschafters zur Folge. Diese Fälle sind aber nur die Spitze des Eisbergs.

Sie haben bis Oktober zahlreiche propalästinensische Proteste mit Beobachtungsteams begleitet. Was meinen Sie mit Spitze des Eisbergs?

Im Jahr nach dem 7. Oktober 2023 haben wir etwa 80 Prozent aller Demonstrationen in Berlin begleitet. Es war dabei die absolute Regel, dass die Polizei Zwang angewendet hat – auch harte physische Gewalt. Beamte haben teils unvermittelt und ohne erkennbaren Anlass zugeschlagen. Wir haben auch Schmerzgriffe gesehen, die Nutzung von Trigger-Punkten am Körper, besondere Fixier-Techniken. Zu Zeiten der Letzten Generation wurden solche Maßnahmen noch kontrovers diskutiert, mittlerweile sind sie zur Routine geworden.

Auch der UN-Menschenrechtsrat und Amnesty International kritisieren das Vorgehen der Polizei gegen propalästinensische Proteste in Deutschland. Wie weit reicht das Problem Ihrer Einschätzung nach?

Unsere Untersuchungen zeigen massive Unterschiede zwischen den Städten. Die extreme Zwangsanwendung durch die Polizei ist dabei ein Phänomen, das sich zwar nicht ausschließlich, aber doch zum größten Teil auf Berlin konzentriert. Etwa in Köln oder München ist bei entsprechenden Protesten das Level an Einschränkungen, Gewalt und Polizeipräsenz viel geringer. In Hamburg und eben Berlin ist die Polizeipräsenz bei Protest zwar vergleichbar, auch das Spektrum der Protestierenden ist hier sehr ähnlich. Aber nur in Berlin beobachten wir dieses hohe Maß an Gewaltanwendung.

Etwa in Köln oder München ist das Level an Einschränkungen, Gewalt und Polizeipräsenz viel geringer

Woran liegt das?

Hamburg und Berlin haben schon eine längere Geschichte von Konfrontationen zwischen sozialen Bewegungen und der Polizei. Beide Städte haben dazu auch eine härtere Polizeilinie. Vor allem Berlin ist bekannt für seine Nulltoleranzpolitik gegenüber propalästinensischen Demos – diese Haltung wird auch offen vom Berliner CDU-Bürgermeister Kai Wegner vertreten. Darüber hinaus spielen noch weitere Faktoren eine Rolle: In Berlin lebt die größte palästinensische Community – der persönliche Leidensdruck ist hier am größten. Dazu überlappen sich in Berlin die Landes- und die Bundespolitik – in anderen Bundesländern kann man die Verantwortung für die deutsche Nahostpolitik leichter auf die Bundesebene abschieben. Nicht zuletzt sehen wir aber auch innerhalb Berlins Unterschiede im Vorgehen.

Sie sprechen Unterschiede innerhalb Berlins an – was heißt das konkret?

Die Polizei geht im Stadtteil Neukölln definitiv härter vor, flankiert von Diskursen, die diesen Stadtteil schon lange pauschal in die Nähe von Clankriminalität, Islamismus und dem Narrativ einer Parallelgesellschaft rücken. Neukölln ist in den Augen des Boulevards, aber auch für viele Populisten das Musterbeispiel des „Stadtbilds“, das es in ihren Augen zu verändern gilt. Dieses Framing bereitet einem sehr harten Vorgehen der Polizei den Boden. Menschen, die hier leben, fühlen sich dadurch, dass sie in der Öffentlichkeit konsequent in die Nähe von Extremismus und Kriminalität gerückt werden, wiederum stigmatisiert. Sie erleben die Polizei dann als Institution der Repression, die genau dieses Narrativ bestärkt.

Alle kommen mit der Erwartung, dass es knallt – und so kommt es dann auch

Dadurch werden gesellschaftliche Weichen so gestellt, dass man sich auf der Straße unversöhnlich gegenübersteht. Für Demonstrationen wird das zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Alle kommen mit der Erwartung, dass es knallt – und so kommt es dann auch.

Bei den Protesten tauchen neben Gewalteskalationen auch mitunter problematische, teils antisemitische Parolen auf – etwa am Jahrestag des Hamas-Angriffs in Berlin ein Banner mit der Aufschrift „Glory to the fighters“. Wie bewerten Sie solche Fälle?

Natürlich ist es inakzeptabel, wenn Demonstrierende Gewalt verherrlichen oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit relativieren – das ist vollkommen klar. Es mangelt deswegen ja auch nicht an Kritik an der Bewegung. Speziell bei Demonstrationen gelten aber grundsätzliche Entscheidungen, etwa der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1985. Er besagt, dass Proteste nur als letztes Mittel bei unmittelbarer und schwerwiegender Gefahr und nach sorgfältiger Güterabwägung aufgelöst werden dürfen. Auch wenn mit Ausschreitungen einer Minderheit zu rechnen ist, oder wenn Einzelne Hassbotschaften verbreiten, bleibt die Versammlungsfreiheit für die friedlichen Teilnehmer geschützt.

Daneben ist es aber auch analytisch fragwürdig, von Extrembeispielen auf die gesamte Bewegung zu schließen. Das wird der Empirie nicht gerecht. Die zeigt ganz klar: Es ist eine heterogene Bewegung mit unterschiedlichen Motiven. Viele der Veranstalter kommunizieren Verhaltensregeln und versuchen auch, Störenfriede auszuschließen. Die allermeisten Demonstrationen sind angemeldet und verlaufen friedlich.

Sie haben zahlreiche Demonstrant*innen zu ihren Einstellungen und Erfahrungen befragt. Viele sehen sich als links und sind eher höher gebildet. Welche Auswirkungen hatte die Polizeigewalt auf sie?

Wir haben bei den Großdemonstrationen in Berlin am 27. September gemeinsam mit Kolleg*innen vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung eine Umfrage durchgeführt. Dort gab etwa die Hälfte an, mindestens einmal Repression erlebt zu haben. Bei denen, die häufiger bei palästinasolidarischen Aktionen waren, steigt der Wert auf über 70 Prozent. Das hat natürlich einen Effekt: Ein Großteil der Befragten gab an, Angst zu haben, bei Protesten in eine Polizeimaßnahme zu geraten. Diese Angst ist in einem demokratischen System ein Alarmsignal.

Ein Großteil gab an, Angst zu haben, in eine Polizeimaßnahme zu geraten

Die gemachten Erfahrungen wirken sich gleichzeitig auch auf andere Bereiche aus: Die Restriktionen, die an Universitäten im Kontext der Gaza-Proteste hochgefahren wurden, führen etwa dazu, dass sich dort auch Klimaaktivist*innen oder antifaschistische Gruppen zurückziehen. Politische Räume werden kleiner. Und auch auf einer individuellen Ebene hat Repression Konsequenzen.

Welche Konsequenzen hat Repression auf individueller Ebene?

Besonders Menschen aus dem arabischen Raum ziehen Parallelen zu den autokratischen Systemen, aus denen sie oder ihre Familien einst gekommen waren. Oder sie fühlen sich auf ihre Herkunft reduziert, durch die politischen Debatten als fremd markiert, unter Generalverdacht gestellt. Das erzeugt einen biografischen Bruch. „Wir sind nicht mehr Teil der Mehrheitsgesellschaft, sondern diejenigen, die es zu disziplinieren gilt.“ Alles was hier passiert, ist insofern auch prägend für die Zukunft als postmigrantische Gesellschaft und das Vertrauen in die Institutionen.

Einige Polizeimaßnahmen wurden von Gerichten wieder aufgehoben. Wie bewerten die Betroffenen das Verhalten der Justiz?

Gerichte werden differenziert wahrgenommen – von allen staatlichen Institutionen genießen sie in unserer Umfrage das höchste Vertrauen. Einer der Gründe ist, dass es zu manchen Streitfragen wie etwa der Bewertung von Slogans der Bewegung unterschiedliche Urteile gibt. Auch bezüglich der Proteste an den Hochschulen wurden viele Verfahren eingestellt. Das schafft Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz. Das tendenziell positivere Bild hat aber Grenzen. Wir haben im Rahmen unserer Forschung auch mit Menschen gesprochen, die seit Jahren Fälle von übermäßigem Gewalteinsatz durch Polizeibeamt*innen zur Anzeige bringen. Die können ein Lied davon singen, wie selten hieraus Konsequenzen folgen. Und auf politischer Ebene gibt es wenig Willen, diese Rechenschaftspflicht durchzusetzen – schon gar nicht beim Thema Palästina-Solidarität.

Einige Beobachter*innen haben die Befürchtung geäußert, dass das Vorgehen gegen propalästinensische Demonstrationen zu einer autoritären Entwicklung in Deutschland beitragen könnte. Wie sehen Sie das?

An der Befürchtung ist etwas dran – auch wissenschaftlich. Es gibt Forschung dazu, wie sich die konstitutiven Merkmale von Demokratien und Autokratien auf globaler Ebene zunehmend vermischen. So wird heute in vielen Diktaturen gewählt und in Demokratien werden autoritäre Polizeitaktiken angewandt und auch durch Feindbilder legitimiert. Das können wir aktuell in den USA gut sehen. Aber auch in Deutschland werden soziale Bewegungen – etwa Klimaproteste oder eben jetzt die Gaza-Proteste – immer häufiger in die Nähe von Terrorismus gerückt. Diese diskursive Strategie kennen wir sonst von Regimen in Ägypten oder der Türkei.

Auch in Deutschland werden soziale Bewegungen – etwa Klimaproteste oder eben jetzt die Gaza-Proteste – immer häufiger in die Nähe von Terrorismus gerückt

Natürlich gibt es weiterhin Unterschiede zwischen dem Vorgehen der Polizei in zum Beispiel Istanbul oder Berlin. Diese Unterschiede sind aber zunehmend qualitativer Natur und nicht mehr kategorischer Art. Unser Denken in Schubladen versperrt den Blick auf diese gefährlichen Entwicklungen.

Wie lässt sich dieser Kreislauf aus Eskalation und Repression durchbrechen?

Es braucht Freiräume für Demonstrationen und auch den politischen Willen, sie zu verteidigen. Ein Beispiel, dass es möglich ist: Am 27. September fand im Berliner Stadtteil Mitte unter dem Motto „All Eyes on Gaza“ eine Großdemonstration mit knapp 100.000 Menschen statt. Die Polizei ist nicht behelmt aufgetreten, es gab fast keine Konfrontationen. Grundsätzlich hat die Polizei immer die Möglichkeit, mit Kontakt-Teams auf Demonstrierende zuzugehen, zu deeskalieren, zu differenzieren. Aber auch politisch ist es wichtig, mit den Menschen, die zu diesen Protesten gehen, in den Dialog zu treten.

Wie stellen Sie sich das vor?

Ich würde mir ein Treffen zwischen politischen Entscheidungsträger*innen und Menschen wünschen, die Familie und Freunde in Gaza verloren haben. Ihr Leid steht doch nicht in Konkurrenz zum Leid israelischer Menschen. Im Gegenteil. Es gibt aber aktuell fast keine öffentlichen Plattformen, in denen ihre Trauer oder auch Wut Gehör findet – da bleiben oft nur die Demos. Und solange der Leidensdruck hoch ist, werden diese nicht aufhören. Wer verhindern will, dass sich die Wut in disruptiven Protesten entlädt, muss Räume schaffen, in denen Menschen gehört werden.