Kolumne – 130 Dezibel oder: Wie halten Sie es mit dem Gehörschutz?

Konzerte bieten unvergessliche Erlebnisse, können aber auch schmerzhaft laut sein. Die Begegnung mit der Band No Age hat unserem Autor gezeigt, wie wichtig Gehörschutz ist – wenn man sich den Genuss von Musik langfristig bewahren möchte


Auch sehr laut: Angus Young, Gitarrist von AC/DC

Foto: Jim Dyson/Getty Images


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Kürzlich stellte mich jemand vor die Frage, was mein lautestes Konzert gewesen sei. Ich musste darüber nicht lange nachdenken. Zwar erinnere ich mich nur schwach an die Performance der Band No Age, aber sehr wohl an das laute Pfeifen in meinen Ohren, das mich danach für gut eine Woche begleitete.

Die Show fand im Leipziger UT Connewitz statt, einem wunderschönen alten Kino, das heute auch für Lesungen und Konzerte genutzt wird. Ich hatte, auch das weiß ich noch, meine Ohrstöpsel vergessen. Nach ein paar Minuten ohne Gehörschutz fummelte ich mir aus einem Taschentuch zwei kleine Kügelchen zusammen. Das brachte so gut wie nichts.

Der Band kann ich keinen Vorwurf machen. Sie nennen ihren Stil „Noise Rock“, es muss laut sein, sonst ergibt diese Musik keinen Sinn. Trotzdem hielt der Tinnitus derartig lang an, dass ich mir reichlich Sorgen machte, mein Gehör tatsächlich nachhaltig geschädigt zu haben. Seit diesem Tag gehört neben dem Dreiklang „Handy, Schlüssel, Portemonnaie“ die eilige Suche nach irgendeinem Gehörschutz für mich zum Ritual vor jeder Show.

Denn: So gut wie jedes Konzert ist auf Dauer „zu laut“. Schädlich sind laute Ereignisse allerdings nicht allein, wenn sie eine gewisse Dezibelzahl überschreiten. Die Dauer des Lärms spielt eine entscheidende Rolle. Ein Lautstärkepegel von 85 Dezibel – etwa der „Sound“ eines Rasenmähers – ist auch über Stunden noch okay, mehr als 95 Dezibel – kurz vor Presslufthammer – für mehr als vier Stunden aber definitiv gefährlich.

Einige der lautesten Konzerte der Menschheitsgeschichte überschreiten diese Grenzwerte deutlich. 130 Dezibel – wesentlich lauter als eine Polizeisirene – sollen zum Beispiel auf AC/DC-Konzerten gemessen worden sein. Und gewissermaßen ist das auch verständlich: Die Idee, dass „lauter“ auch „besser“ heißt, ist eine direkte Folge der Möglichkeit, Instrumente wie die E-Gitarre mit Strom zu verstärken. Und bei AC/DC steckt dieses Vorhaben schon im Namen: „AC“ und „DC“ stehen für „alternating current“ und „direct current“ – Gleichstrom und Wechselstrom. Die Idee von Rockmusik ist quasi synonym mit Lautstärke, und bis heute gehört eine gewisse Form von Lärm zum Markenzeichen vieler elektrisch verstärkter Bands und Künstler*innen.

Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang das „Wall of Sound“-System der amerikanischen Band Grateful Dead. In den 1970ern stapelte die Band knapp 600 Lautsprecher auf der Bühne neben- und übereinander, sodass eine tatsächliche Wand aus Boxen entstand. Ziel war es, glasklaren Sound für Massen um die 100.000, die zum Teil mehrere hundert Meter weit von der Bühne entfernt standen, zu ermöglichen. Das System funktionierte, war aber zu unpraktikabel, um sich durchzusetzen.

Außerdem kam dann der Transistorverstärker, und mit ihm die Möglichkeit, mit wesentlich weniger Equipment Lautstärke zu erzielen. Das Image vieler Bands war da aber schon manifest: Wer viele Lautsprecher auf der Bühne hatte, galt als amtliche Rockband. Daraus entstand eine eigenartige Mode: Bands wie KISS oder Slayer stellten türmeweise leere Boxen auf die Bühne, die von vorn wie Marshall-Verstärker aussahen, um den Eindruck einer„Wall of Sound“ zu vermitteln. Die Fans hatten sich schnell an diesen Anblick gewöhnt, eine „leere“ Bühne sah einfach nicht „Metal“ genug aus.

Heute nehme ich auf Konzerten hin und wieder den Gehörschutz ab und staune, was für einen klaren, lauten Klang kundige Soundtechniker*innen heute erzeugen können – selbst in akustisch schwierigen Gebäuden oder auf riesigen Open-Air-Bühnen. Dann erinnere ich mich aber daran, dass man auch den besten Sound nur mit einem intakten Hörvermögen genießen kann – und schirme mich schnell wieder ab.

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Musiktagebuch

Konstantin Nowotny schreibt beim Freitag die Kolumne Musiktagebuch. Darüber hinaus schreibt er öfter über Themen rund um die Psyche und hin und wieder über Ostdeutschland.