Koalitionskrise: Lindner im Streckbetrieb
Die Koalitionskrise reist mit. Zwei Tage nach der verheerenden Wahlschlappe der Liberalen in Niedersachsen fliegt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) nach Washington. Es ist Mitte Oktober, Zeit für die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, also eigentlich wie immer, Routine. Doch dieses Mal ist es anders. Das liegt weniger an dem düsteren Szenario für die Weltwirtschaft, das die Ökonomen der multilateralen Organisation zeichnen („Das Schlimmste kommt noch“), sondern an dem öffentlichen Tauziehen, das sich der FDP-Vorsitzende mit den Grünen im Allgemeinen und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Besonderen seit Tagen in aller Öffentlichkeit liefert.
Lindner blockierte vor seinem Abflug den Kabinettsbeschluss zum Streckbetrieb zweier Atomkraftwerke im Süden des Landes, auf den Habeck drang. Der Liberale bestreitet den Zeitdruck, den der Grüne sieht. Letztlich geht es in dem Koalitionskrach um zwei Punkte: Erstens, soll das dritte derzeit noch laufende Kernkraftwerk (Emsland in Niedersachsen) zum Jahreswechsel abgeschaltet werden, so wie es ursprünglich geplant war und die Grünen es weiterhin wollen? Zweitens, wie lange sollen die Reaktoren wegen der speziellen Energiekrise länger genutzt werden – bis April 2023 oder bis ins Jahr darauf? Lindner und seine Parteifreunde reden in diesem Zusammenhang viel über Versorgungssicherheit und Strompreise, die ein größeres Angebot drücken kann – in dem Wissen, dass diese Laufzeitverlängerung für den Koalitionspartner der größte anzunehmende politische Unfall ist. Das Atomthema ist für die Grünen extrem symbolträchtig – etwa wie das Tempolimit oder besser seine Verhinderung für Liberale. Doch ein politisches Tauschgeschäft ist noch nicht in Sicht. Also kriselt es in Berlin.