Klimawandel | Roman „Seemannslied“ von Ken Kesey: Absurdität mit Weitblick
Ken Kesey ist Autor von „Einer flog über das Kuckucksnest“. Nach 30 Jahren erscheint sein Spätwerk „Seemannslied“ erstmals auf Deutsch. Ein ziegelsteingroßer Roman über Klimawandel, kulturelle Aneignung und abgehalfterte Freaks in Alaska
Ken Kesey (1935–2001) war eine zentrale Figur sowohl der Beat Generation als auch der psychedelischen Bewegung
Foto: The Estate of David Gahr/Getty Images
Ken Keseys Roman Seemannslied kommt zwar erst über 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung in deutscher Übersetzung heraus, aber eigentlich passt das sogar ganz gut. Denn der ziegelsteingroße Roman über eine vom Klimawandel heimgesuchte Erde, in der es gerade mal in Alaska noch erträglich ist zu leben, spielt in den 2020ern, also heute.
Mit Einer flog übers Kuckucksnest (1962) wurde der 1935 geborene Kesey, eine der prominentesten Figuren der amerikanischen Gegenkultur der 1960er, weltberühmt. Kesey schrieb nur noch zwei weitere Romane, war vor allem Performancekünstler und tourte als Mitglied der Gruppe Merry Pranksters mit der Kamera in der Hand in einem bunt bemalten Hippie-Bus, unter anderem mit Neal Cassady und den späteren Musikern von Grateful Dead, durch die USA. Sein 700-seitiges Spätwerk Seemannslied (1992) hat erzählerische Längen, weshalb es wahrscheinlich nicht direkt übersetzt wurde. Aus heutiger Sicht wirkt der Roman geradezu prophetisch, thematisiert er doch den Klimawandel, damals war das literarische Pionierarbeit.
Die kleine, fiktive Fischer-Gemeinde Kuinak im Süden Alaskas bekommt plötzlich Besuch von einer Filmcrew, die dort einen Jugendbuch-Klassiker der indigenen Literatur verfilmen und gleich die ganze Kleinstadt zum Vergnügungspark umbauen will. Im Zentrum der Geschichte stehen der Fischer und Ex-Ökoterrorist Ike Sallas, „der aussieht wie ein griechischer Gott mit den Augen von Elvis Presley“, und die indigene Alice Carmody, die mit einem dickbäuchigen Fischereiunternehmer verheiratet ist, sich nie etwas gefallen lässt und wild fluchend durch den Kleinstadtkosmos läuft. In Kuinak leben jede Menge abgehalfterter Freaks, die als „Loyal Order of the Underdogs“ organisiert sind, aber auch viele indigene Bewohner, und fast alle leben vom Fischfang.
Die snobistischen Filmemacher stiften Chaos, bringen aber jede Menge Geld in die Gemeinde. Verfilmt werden soll „Shoola und der Seelöwe“. Dieser angebliche indigene Klassiker ist Teil des Romankorpus und ließe sich am besten als Fantasy-Novelle labeln, ist aber in Wirklichkeit gar keine indigene Literatur, wie Alice herausfindet, sondern stammt von einer weißen alten Dame aus New Jersey. Wobei den Text in Wirklichkeit das Multi-Künstler-Talent Ken Kesey 1991 als illustriertes „Kinderbuch“ (1991) herausbrachte.
Der Alt-Revoluzzer
Während sich am Horizont ein Ionen-Sturm zusammenbraut, der irgendwann die gesamte Elektrik lahmlegt und massive Zerstörungen anrichtet, wird das Verhältnis der Filmproduzenten zu den Einwohnern, deren Dorf bald zur historischen Muster-Indianersiedlung umgebaut wird, immer konfliktreicher. Vorneweg marschiert Alt-Revoluzzer Ike Sallas gegen die Interessen des Kapitals an. Ken Kesey schreibt in Seemannslied über Klimawandel, kulturelle Aneignung, Rassismus, familiären Missbrauch, die Enteignung indigener Communitys, oft viel zu detailliert über das Fischereihandwerk, selten über Technologien der Zukunft (immerhin gibt es senkrecht startende Flugzeuge), aber es kommen auch rechte christliche Fanatiker in diesem Opus vor.
Damit war dieses Buch seiner Zeit weit voraus. Es liest sich wie eine krude Mischung aus Tom Robbins, Thomas Pynchon und Edward Abbey. Egal, ob es immer wieder hinausgeht aufs Meer zum Fischen, mit dem Propeller-Flugzeug in die unzugängliche Pampa Alaskas oder per Draisine auf einer aberwitzigen Berg- und Talfahrt in Richtung Küste auf der Flucht vor autoritären religiösen Spinnern:
Das Buch bietet einen bunten Strauß comicartiger Action. Kesey dürfte beim Schreiben ähnlich viel Spaß gehabt haben wie der Leser bei der Lektüre. Inspiriert wurde er offenbar während eines Jobs in Alaska, als er für Disney 1982 das Skript für einen Naturfilm vor Ort umschreiben sollte. Am Ende nimmt das Ganze richtig Fahrt auf und mündet in ein wundervolles Finale am Strand von Kuinak.