Klimaschutz: Das Comeback des Erdöls
Kanadas Regierungschef Mark Carney war mal ein Vorkämpfer gegen die Erderwärmung. Bis Anfang des Jahres war der frühere Notenbanker Sondergesandter der Vereinten Nationen für die Finanzierung des Klimaschutzes. Carney hat eine Initiative für marktwirtschaftlichen Klimaschutz in Unternehmen gestartet, und in seiner Zeit als Gouverneur der Bank von England war er 2015 der erste Notenbankchef, der auf die Gefahren des Klimawandels für die Finanzmärkte hinwies.
Doch seit Carney im März als kanadischer Premierminister vereidigt wurde, hat er eine andere Agenda. Als eine seiner ersten Amtshandlungen strich der zum Politiker gewandelte Finanzexperte eine Kohlendioxid-Steuer für private Haushalte in Kanada. Vor allem aber setzt Carney darauf, dass die Öl- und Gasindustrie dem vom Zollkrieg mit den USA gebeutelten Kanada neues Wirtschaftswachstum bringt. Das Land verfügt über umfangreiche Öl- und Gasvorkommen und ist einer der größten Exporteure auf der Welt.
Vom Klimaschützer zum „Cheerleader für die Ölindustrie“
Aus Carney, dem Kämpfer gegen den Klimawandel, sei „ein Cheerleader für fossile Brennstoffe“ geworden, spottete kürzlich die amerikanische Wirtschaftszeitung „Wall Street Journal“. Der Premierminister hat angekündigt, er werde Kanada zu einer „Energie-Supermacht“ machen – und meint damit nicht zuletzt fossile Energien. Die Produktionskapazitäten von verflüssigtem Erdgas sollen verdoppelt werden, geprüft wird auch der Bau neuer Ölpipelines. Die sehr energieintensive und deshalb besonders klimaschädliche Ausbeutung der gewaltigen Ölsandvorkommen im Bundesstaat Alberta preist der Politiker neuerdings als Wohlstandsmotor für Kanada.
Die wundersame Wandlung des Mark Carney ist kein Einzelfall, sie ist Teil eines globalen Trends. Während in den vergangenen zwei Wochen Vertreter von rund 200 Staaten auf der Weltklimakonferenz im brasilianischen Belém um einen Fahrplan für den Abschied von Erdöl, Erdgas und Kohle rangen, erleben die fossilen Brennstoffe ein Comeback. Zehn Jahre nach dem Klimaschutzabkommen von Paris und sechs Jahre nach dem globalen „Klimastreik“ von Fridays for Future hat sich der Wind gedreht.
Zwar kommt der historische Großumbau des globalen Energiesystems voran. In vielen Ländern werden Windparks, Solarfarmen, Batteriespeicher und Stromtrassen gebaut, es werden neue Atomkraftwerke geplant und Elektrolyse-Anlagen zur Umwandlung von Ökostrom in klimaneutralen Wasserstoff. Aber der Ausbau der klimaschonenden Energiequellen hält nicht Schritt mit dem wachsenden Energiehunger der Welt.
Fossile Brennstoffe auf dem Vormarsch
Dass fossile Brennstoffe wieder auf dem Vormarsch sind in der Energiepolitik, das zeigt auch der neue World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur in Paris sehr klar. Der mehr als 500 Seiten dicke und jährlich im Herbst veröffentlichte Bericht gilt als die wichtigste Sammlung von Daten und Prognosen zum globalen Energiesektor. Er dient oft als Referenzgröße für die internationale Energie- und Klimapolitik.
In der neuen Ausgabe der Energiemarkt-Bibel aus Paris gibt es eine symbolträchtige Veränderung: Die Energieagentur nahm ein neues Negativszenario auf, das davon ausgeht, dass der weltweite Verbrauch von Öl und Gas noch bis zur Jahrhundertmitte weiter steigen wird. Die bisherigen Klimaschutzziele der Weltgemeinschaft wären damit unerreichbar.
In den vergangenen Jahren hatten die Energiefachleute aus Paris dagegen in ihren Berichten stets nur solche Szenarien berücksichtigt, die auf der Annahme basierten, dass der Verbrauch klimaschädlicher fossiler Energieträger dieses Jahrzehnt den Zenit überschreiten werde. „Peak Oil“ schien in Sichtweite.
Endet zumindest der Anstieg des Kohleverbrauchs bald?
Das erdölfreundliche und für das Klima ungünstige „Current Policies Scenario“ geht davon aus, dass es mit Energiewende und Klimaschutz in Zukunft global nur langsam vorangehen wird: E-Autos und elektrische Wärmepumpen verkaufen sich schlecht, viele Häuser bleiben ungenügend wärmegedämmt, der Ausbau der erneuerbaren Energien kommt vergleichsweise zäh voran, und der Stromverbrauch durch Klimaanlagen wächst.
Einer der wenigen Lichtblicke in diesem pessimistischen Zukunftsbild: Zumindest der Verbrauch von Kohle, dem klimaschädlichsten fossilen Brennstoff, werde auch bei einer solch ungünstigen Entwicklung dieses Jahrzehnt seinen Höhepunkt erreichen, erwartet die Energieagentur. Bislang sorgten vor allem die vielen Kohlekraftwerke in China für einen immer weiter wachsenden Kohlebedarf. Doch der starke Ausbau der erneuerbaren Energien in dem asiatischen Land werde diesen langfristigen Trend zu immer mehr Kohlestrom schon bald brechen, erwartet die Energieagentur.

Wenn das Negativszenario einer rapide abgebremsten globalen Energiewende Realität werden sollte, dann wären die Folgen für das Weltklima heftig. Bis Ende des Jahrhunderts ist dann laut Energieagentur ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter um 2,9 Grad zu befürchten. Das nach der Klimakonferenz 2015 in Paris angepeilte Ziel, die Aufheizung des Planeten auf 1,5 Grad zu begrenzen, um die Folgen des Klimawandels beherrschbar zu halten, würde damit meilenweit verfehlt.
Die neue Szenario-Berechnung ist schnell zum Politikum geworden. Die zum OECD-Verbund der führenden Industriestaaten zählende Internationale Energieagentur geriet umgehend unter Verdacht, das erdölfreundliche Zukunftsbild auf Druck der US-Regierung in ihren Bericht aufgenommen zu haben. Der amerikanische Energieminister Chris Wright hat im Sommer die bisherige Prognose der Pariser Energieexperten, dass der globale Ölverbrauch schon bald seinen Höhepunkt erreichen werde, als „völligen Nonsens“ bezeichnet. Zugleich drohte Wright mit einem Entzug der amerikanischen Finanzmittel für die Energieagentur. Deren Prognosen waren in der Vergangenheit allerdings auch nicht immer treffsicher. So unterschätzten die Experten zum Beispiel über lange Zeit hinweg das rasante Wachstum der weltweiten Solarstromerzeugung.
Auch die europäische Ölindustrie setzt inzwischen wieder voll auf ihr Kerngeschäft. Die beiden britischen Energiekonzerne BP und Shell hatten zwischenzeitlich auch auf Strom und erneuerbare Energien gesetzt, diese Investitionen aber mittlerweile wieder stark zurückgefahren. Auch bei Total zeichnet sich ein Umdenken ab.

Der französische Konzern investiert unter den Großen der Branche bisher noch am stärksten in erneuerbare Energien. Doch auf dem Klimagipfel in Belém bezeichnete Total-Chef Patrick Pouyanné das neue ölfreundliche Szenario der Energieagentur als „realistisch“. Um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, wäre „eine heilige Allianz aller Länder“ nötig, fuhr der Franzose fort. Die aber sei weit und breit nicht zu erkennen.
Trump will einen neuen Ölboom in der Tiefsee
Total will zwar weiterhin auch mit Stromerzeugung Geld verdienen – aber nicht unbedingt nur mit grünem Strom. Soeben beteiligte sich der Konzern mit fünf Milliarden Euro an einem Gemeinschaftsunternehmen für Erdgas-Kraftwerke mit dem tschechischen Milliardär Daniel Křetínský. Der Anteil der erneuerbaren Energien in der Stromsparte von Total sinkt dadurch. Es gebe „Rückenwind“ für Erdgaskraftwerke in Europa, sagte Konzernchef Pouyanné. Auch in Deutschland sollen nach dem Willen der Bundesregierung Dutzende neuer Erdgaskraftwerke gebaut werden. Sie sollen als Back-up für Flautezeiten mit wenig Solar- und Windstrom dienen.
Ob die Renaissance der Öl- und Gasindustrie von Dauer sein wird, dafür könnte nicht zuletzt die weitere Entwicklung im Golf von Mexiko wichtige Hinweise geben. Denn die Erschließung und Ausbeutung solcher Tiefsee-Lagerstätten ist langwierig, und sie kostet viele Milliarden. Großprojekte dieser Kategorie nehmen die Energiekonzerne nur in Angriff, wenn sie langfristig gute Absatzchancen für das dort geförderte Öl und Gas sehen.
Der amerikanische Präsident Donald Trump, der die Klimakrise immer wieder als „Schwindel“ bezeichnet hat, tut alles, um einen neuen Ölboom vor der Küste der USA zu entfachen. Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts haben sich die jährlichen Investitionen der Ölindustrie im Golf von Mexiko mehr als halbiert – auch weil durch die internationale Energiewende solche teuren Langfristprojekte wirtschaftlich riskanter geworden waren.
Ein „CO2-Staubsauger“ soll Hilfe bringen
Wenn das Zeitalter von Öl und Gas tatsächlich in die Verlängerung gehen sollte, wie es die Internationale Energieagentur befürchtet und wie Trump und die arabischen Ölstaaten es sich erhoffen, dann wird ein neuer Hoffnungsträger im Kampf gegen die Klimakrise umso wichtiger werden: das nachträgliche Entfernen von Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Noch steht das sogenannte Carbon Capture and Storage (CCS) am Anfang. Mitte des Jahres gab es weltweit gerade mal knapp 80 CCS-Anlagen mit einer winzigen CO2-Entfernungskapazität von insgesamt 64 Millionen Tonnen im Jahr – weniger als 0,2 Prozent der jährlichen Emissionen.
Aber ohne einen solchen „CO2-Staubsauger“ zur Abkühlung der Atmosphäre werde es nicht mehr gehen, sagte der Klimaökonom Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, schon vor einem Jahr im F.A.S.-Gespräch voraus. Zu gering sind bisher die Fortschritte bei der angestrebten Senkung der globalen Treibhausgasemissionen. Edenhofer schlägt vor, dass zum Beispiel Ölraffinerien, die heute CO2 ausstoßen, verpflichtet werden, diese Emissionen später „zurückzuholen“ und das Klimagas wieder aus der Atmosphäre zu entfernen. In Deutschland hat der Bundestag vor zwei Wochen das Kohlenstoffspeichergesetz beschlossen. In Zukunft soll Kohlendioxid etwa aus der Zement- und Stahlherstellung unter dem Meeresboden der Nordsee gelagert werden.
Auf die CO2-Speicherung will auch Kanadas Premierminister Mark Carney setzen. Er wirbt neuerdings für „dekarbonisiertes Erdöl“: Die bei der Ausbeutung von Ölsandvorkommen in Alberta entstehenden hohen CO2-Emissionen sollen aufgefangen und unterirdisch gespeichert werden. Kritiker überzeugt Carney damit freilich nicht. Klimaforscher, die zum Beraterstab seiner Regierung zählen, warnten, der Premierminister blamiere sich mit dem Slogan vom angeblich klimaneutralen Erdöl. Carney übernehme damit „den Marketing-Sprech der Ölindustrie“ .