Klassiker: Zehn Fakten darüber hinaus dies Bücherregal

A

wie Aufstieg

In der Kindheit fraßen wir uns durch → Bibliotheken, Bücher waren teuer und wurden im Buffet deponiert. Ohnehin war der Stahlbeton nur mit einer Black & Decker zu bewältigen, die hatten wir nicht. Meine ersten Bücherregale bestanden aus rot-bröckeligen Backsteinen und Brettern vom Sperrmüll. Mindestens drei Mal bin ich mit dieser Schwerlast von WG bis zur ersten eigenen Wohnung gewandert, dann hinterließ ich sie porös auf einem Speicher. Die ersten Billy-Regale waren ein Aufstieg, ich sehe mich noch Mitte der 1970er Jahre völlig verzweifelt auf dem Boden liegend mit den nervigen Aufbauhilfen. Billy hat mich lange begleitet, ergänzt von der rustikaleren Ivar-Variante, die, in doppelter Reihe, das immer mehr Platz fressende Papier beherbergte. Die Billy-Reste fristen inzwischen ein Kellerdasein, darin uralte Freitag-Ausgaben. Mit Lundia haben wir nun das vorläufige Regale-Mekka erreicht. (Noch) denken wir nicht darüber nach, wer das Zusammengetragene am Ende einmal entsorgen wird. Ulrike Baureithel

B

wie Bibliothek

„Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“ Für den Autor Jorge Luis Borges ist der Garten Eden ein Labyrinth aus Bücherregalen. Man kann hier die Vielfalt der Bücheraufbewahrung bestaunen. Da gibt es auf Schienen geführte Rollleitern, um auch in mehreren Metern Höhe noch an die Lektüre zu gelangen. Teilweise stehen Bücher in vierter Reihe, sind nur durch ihre Signaturen auffindbar. Beeindruckend zeigen sich Magazine mit Rollregalen. Das sind ganze Ordnungssysteme (→ Sortieren) mit fahrbaren Teilen, die nur bei Bedarf Zugang zu jeweils einer einzelnen Regalreihe geben. Das ist eine platzsparende Lösung. Die Elemente werden oft mit einer Handkurbel verschoben. Die Nutzer müssen aufpassen, dass sie niemanden zerquetschen, der gerade im System steht. Nicht, dass er in einem anderen Paradies landet. Tobias Prüwer

D

wie Design

Wenn es keine Bücher trägt, erinnert mich das Regal „Booksbaum“ (Design Michael Rösing) an meinen wiederverwendbaren Ersatzweihnachtsbaum, der bei Tageslicht wie eine vom sauren Regen entnadelte kleine Fichte im Erzgebirge dasteht. Am Weihnachtsabend aber sieht man nur die Kerzen leuchten. Vom „Booksbaum“-Regal, wenn es voll bestückt ist, bleiben nur die Bücher sichtbar. Sie türmen sich hoch auf und scheinen dafür gar kein Regal zu benötigen. Ganz anders bei den wuchtigen Retrodesign-Regalen aus Eiche oder anderem Vollholz in den Privatbibliotheken bibliophiler Bildungsbürger. Sie wirken wie Mausoleen für Bücher und verstecken die Bände in sich, wie alte Folianten ihre Texte zwischen protzigen Lederdeckeln. Der Designphilosoph Heinz Hirdina schrieb einmal, funktionales Design bedeute, „… dass der ästhetische Genuss von der Form an sich auf die Form im Gebrauch wandert oder auf den Gebrauch selbst als eine Form von Tätigsein“. Das gilt auch für Regale. Michael Suckow

G

wie Gratis

Seien wir ehrlich: Bücher sind nicht billig. Damit auch Menschen ohne das nötige Kleingeld Bücher bekommen und Nachbarschaften miteinander teilen können, stehen inzwischen überall öffentliche Bücherregale auf der Straße: überdacht, mit Glastüren vor dem Regen geschützt – oft werden auch alte Telefonzellen als Bücherschränke genutzt. Knapp 3.600 dieser öffentlichen Bücherschränke gibt es in Deutschland. Manche sehen aus wie Kraut und Rüben, andere sind kuratiert, sortiert und werden regelmäßig geputzt. Und allen ist gemein, dass sich wahre Schätze darin finden lassen. So wie ausgemusterte Bücher (→ Marktplatz), die schlicht niemand mitnehmen will: alte Reiseführer, Bücher mit alten Schriften und zerfledderten Einbänden oder irgendwelche Ratgeber aus dem letzten Jahrhundert. Bücherregale gehören allen! Ben Mendelson

M

wie Marktplatz

Dass Bücherregale stets zu kurz sind, ist allen Bibliophilen bekannt. Zumal wenn man als Literaturkritiker permanent unverlangte Büchersendungen bekommt. Wer soll das alles lesen? Bleibt nur auf dem Boden stapeln. Doch wehret den Anfängen! Meine Frau verbietet dergleichen Bücherberge strikt. Also sichere ich den Ehefrieden, indem ich hemmungslos alles verkaufe, was ich nicht dauerhaft behalten will. Selbst Geschenke befreundeter Autoren. Zunächst nutzte ich den sogenannten Marktplatz eines bekannten Versandhändlers, doch das ist nicht ohne Tücken: Man haftet für Versäumnisse der Post und muss Bestellungen umgehend versenden. Zudem verdient man nicht viel, sind die Ausgaben für Porto und Umschläge abgezogen. Daher mein Wechsel zum Gebrauchthändler. Alles in eine Kiste, Porto zahlen die, und für fast alle Neuerscheinungen gibt es halbwegs faire Preise. Bücher, die nur Cent wert sind, kommen ein, zwei Tage in eine Kiste vor die Haustür und dann in die Altpapiertonne. Uwe Schütte

N

wie Neugier

Um die Jahrtausendwende war die Berliner Staatsbibliothekam Potsdamer Platz eine Kontaktbörse erster Sorte. Vor allem unter denen, die Jura studierten, galt sie als zuverlässiger Ort der Objektwahl. Welche erotischen Schwingungen in einer anderen, nämlich einer ChicagoerBibliothek aufkommen, beschreibt aber auch Peter Stamm in seinem Roman Agnes. Nie werde ich vergessen, wie treffend ich dort zu lesen fand, dass der Protagonist an den Titeln (→ Gratis), die auf dem Arbeitstisch der Cellistin Agnes liegen, etwas über den Charakter der Frau erfahren möchte, die ihn anzieht und die dort, umgeben von meterhohen Bücherregalen, an ihrer Dissertation über Symmetrien von Kristallgittern schreibt. Gewiss kein pulsierendes, aber ein faszinierendes Thema, ganz so, wie es eben in großen öffentlichen Bibliotheken recherchiert und bearbeitet wird.Beate Tröger

S

wie Sortieren

Wie man seine Bücher sortiert, ist eine wichtige Entscheidung, sagt es doch viel darüber aus, welches Verhältnis man zu ihnen hat – und somit darüber, was für ein Mensch man ist. Das Problem: Die meisten Ordnungskriterien treten von außen an den Inhalt heran, stehen in keiner direkten Beziehung zu ihm. Nun kann man sagen: Ist doch egal, Hauptsache, man findet, was man sucht. Oder Kompromisse eingehen: nach Sachbüchern und Belletristik unterscheiden und darin nach Alphabet aufstellen. Oder man versucht, Bücher in Beziehung zu setzen, wie es der Kulturwissenschaftler Aby Warburg in seinem elliptischen Bibliothekssaal (→ Neugier) tat. Nur: Bücherregale sind linear, Wissen ist es nicht. Schlimm ist es, wenn sich das Ordnungskriterium gänzlich vom Inhalt verabschiedet, also Reinlichkeit das Maß aller Dinge wird: Wer Bücher nach Farben sortiert, sortiert auch Menschen nach Farben. Gegenüber dieser faschistoiden Manie im Bücherregal ist sogar die Unsortiertheit vorzuziehen. Jede Suche nach einem Buch wird dann zur kleinen Entdeckungsreise. Leander F. Badura

V

wie Versteckspiel

Wer viele Bücher hat, kennt es: Manchmal, scheint’s, wechseln sie die Plätze (→ Zweite Reihe). Sie sind nicht mehr dort, wo man sie vermutet, und werden zufällig wieder aufgefunden. Irritierender noch, wenn sie sich maskieren, wie Patrick Süskind, Autor von Das Parfum,es in Amnesie in litteris (2001)beschreibt. Nach prägender Lektüre gefragt, war er sprachlos geblieben und wollte sich Rat holen am heimischen Bücherregal. Blätterte hier und da, dann las er sich fest, überzeugt, dass er dem geschliffenen Text zum ersten Mal begegnet sei. Die Randbemerkungen machten ihn stutzig. Waren sie gar von seiner Hand? Wie hatte er dieses Leseerlebnis vergessen können? Nein, irgendwo im Unterbewusstsein muss eine Prägung sein als bleibende Spur. Mysteriös. Und doch auch schön, wenn Bücher einem wieder neu werden können.Irmtraud Gutschke

W

wie Wandgemälde

Im Jahr 2014 wurde Heidelberg als erste Stadt im deutschsprachigen Raum in das weltweite Netzwerk der „UNESCO Cities of Literature“ aufgenommen. Zehn Jahre danach wird das Jubiläum der Aufnahme unter anderem mit der Fertigstellung eines Wandgemäldes gefeiert, das in den vergangenen Wochen am Südpfeiler der Theodor-Heuss-Brücke am Neckar entstanden ist. Das Graffiti des niederländischen Street-Art-Künstlers JanisDeMan zeigt ein überdimensionales Bücherregal (→ Bibliothek) mit Büchern Heidelberger Autorinnen oder Autoren – wie etwa Jagoda Marinić oder Sophie Mereau. Der Künstler hatte bereits große Regale voller Bücher auf ein Gebäude in Utrecht gemalt. Nun sind Bücher zu sehen, die Heidelberg zum Ort der Literatur gemacht haben, darunter David Lodges Werk Out of the shelter, in dem die Hauptfigur Timothy Young Anfang der 1950er Jahre einen Sommer in Heidelberg verbringt. Oder Der Kranz der Engel von Gertrud von le Fort. Welche Werke in dem Gemälde verewigt wurden, durften die Heidelberger Bürger und Bürgerinnen selbst in einer Umfrage entscheiden.Marc Peschke

Z

wie Zweite Reihe

Das Billy-Regal von Ikea ist ungefähr 25 Zentimeter tief. Platz genug, um zwei Taschenbücher hintereinander zu platzieren. Willkommen in der zweiten Reihe. Hier findet all jenes seinen Ort, das für den Weg zum öffentlichen Bücherschrank noch nicht bereit ist. Titel, die in Videokonferenzen unsichtbar bleiben, einst aktuelle Sachbücher, belletristische Eintagsfliegen, Krimis. Vielleicht möchte man sie doch noch einmal lesen. Aber dann ist die Gefahr groß, dass sie nicht mehr aufzufinden sind. Es sei denn, man räumt die ganze vordere Reihe beiseite. Und hat beim Blick auf millimeterdicke Staubschichten den Anlass der Aktion bereits vergessen. Eine Kiste zur Zwischenlagerung im Keller wird herbeigeschafft. Doch leider ist sie zu klein für einen Regalmeter Bücher. Also wird die erste Reihe wieder eingeräumt. Und alles bleibt, wie es war.Joachim Feldmann