Kino | Mehrfacher Oscar-Kandidat „Sentimental Value“: Ein Blick spricht Bände

In „Sentimental Value“ von Joachim Trier werden Familienbande auf den Prüfstand gestellt. Der Film erzählt von zwei Schwestern und ihrem entfremdeten Künstler-Vater. Das Haus, in dem sie aufgewachsen sind, ist ein stiller Hauptdarsteller


Renate Reinsve als Nora (links) kann auf eine Oscar-Nominierung hoffen. Doch was hier Haupt- und Nebenfiguren sind, ist so klar nicht

Foto: Kasper Tuxen Andersen


Die Dinge haben den Wert, den wir ihnen zuschreiben. Man spürt das besonders deutlich, wenn es um Nachlässe geht. In einer Szene von Joachim Triers neuem Film Sentimental Value räumen die erwachsenen Schwestern Nora (Renate Reinsve) und Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) den Haushalt ihrer verstorbenen Mutter aus. So viele Dinge und so wenig unmittelbarer Gebrauchswert! Dann zeigt Agnes auf eine Vase und sagt, dass sie die behalten möchte, weil sie ihr emotional etwas bedeutet. Nora zuckt mit den Schultern und gibt sich großzügig. „Sicher, nimm sie!“ Aber wenig später packt sie sie doch selbst ein und geht damit davon.

Warum sie das tut? Eine direkte Antwort darauf gibt der Film nicht. Die Schwestern haben ein gutes, ja sogar recht inniges Verhältnis, ohne Eifersucht oder Konkurrenz. Aber wer empfänglich ist für die feinen emotionalen Schwingungen, die Trier in seinem Film erzeugt, kann erspüren, was diese Geste über Nora aussagt und über ihre Sehnsucht nach einem Zuhause, nach Bindungen, zu denen sie sich unfähig fühlt und für die sie sich für zu verkorkst hält.

Wenn ein Haus erzählt …

Noras Sehnsucht ist eins der Leitmotive des Films. Die Einleitung macht das klar, obwohl man es erst retrospektiv richtig versteht: Während die Kamera eine schöne alte Familienvilla in Oslo zuerst von außen und dann von innen erkundet, erzählt eine Stimme (Bente Børsum) aus dem Off, wie Nora als Schülerin einmal die Aufgabe bekam, die Welt aus der Perspektive eines Objekts zu schildern. Sie wählte das eigene Haus: wie es rumorte, wenn sie und ihre Schwester Agnes die Treppen runterrannten, wie voll es sich anfühlte, wenn sie zu Hause, und wie leer, wenn sie zur Tür raus waren.

In wenigen Szenen rekapituliert der Film zugleich Noras und Agnes’ wenig idyllische Kindheit in diesem sehr idyllischen Haus. Die Eltern streiten sich laut und viel, irgendwann packt der Vater (Stellan Skarsgård) die Koffer und geht. Das Haus wird leerer.

Aus Nora wurde eine angesehene Schauspielerin, das zeigt die nächste Szene, mit der die eigentliche Filmhandlung einsetzt. Sie spielt hinter den Kulissen einer Theaterpremiere unmittelbar vor Vorstellungsbeginn. In vollem Kostüm, fertig für die Bühne, steht Nora da – und bekommt eine Panikattacke. Nicht zu vergleichen mit dem, was man landläufig Lampenfieber nennt, sondern ein echtes Ausrasten, das sie durch die Garderobengänge jagen und sich Kostüm und Mikrofon vom Leib reißen lässt. Das Bühnenpersonal scheint das Verhalten seines Stars zu kennen, die Mitarbeiter fangen sie ein, versuchen sie zu beruhigen, hektisch und selbst mit zunehmender Panik. Bis Nora schließlich doch auf die Bühne, ins Scheinwerferlicht tritt.

Oscar-Vorschläge: Renate Reinsve oder Stellan Skarsgård?

In der Werbung für den Film, deren Bestandteil auch die Kampagne für diverse Oscars ist, wird Renate Reinsves Auftritt als Nora zentral gesetzt, nicht zuletzt, um der mit Der schlimmste Mensch der Welt bekannt gewordenen Norwegerin eine Nominierung zu verschaffen. Aber in Wirklichkeit ist die Konstruktion von Triers Film vielschichtiger, und es ist weniger klar, was Haupt- und was Nebenfiguren sind. Er mäandert zwischen den Figuren, rückt sie abwechselnd in den Vordergrund und lässt sie wieder zurücktreten. Im Grunde ist das Haus selbst der Hauptdarsteller.

Denn gleichsam aus seiner Perspektive geht es um die letzten Monate, in denen sein Schicksal das der Schwestern Nora und Agnes sowie das von deren Vater Gustav berührt. Die Trauerfeier für die verstorbene Mutter führt die drei erstmals nach langer Zeit wieder hier zusammen. Es ist kein herzliches Wiedersehen. Gustav bemüht sich um Nonchalance, während seine Töchter ihn mit der Vorsicht von gebrannten Kindern begrüßen. Ganze Listen von Enttäuschungen und Verletzungen spiegeln sich in ihren Gesichtern, während Gustav zu wissen scheint, dass er für immer der Vater bleiben wird, der sie verlassen hat.

Der Vater will Nähe nur, wenn sie ihm nützt

Gustav ist Filmregisseur, mit 70 Jahren befindet er sich aber im Herbst seiner Karriere. Nun hat er ein Drehbuch geschrieben, für das er Nora gewinnen will. Inspiriert ist es von seiner eigenen Biografie, die mit einer Mutter, die im Widerstand gefoltert wurde und später Selbstmord beging, einiges an Traumatischem enthält. Aber Nora verweigert sich der Zusammenarbeit; sie kennt ihren Vater als narzisstischen Ausbeuter, der Nähe nur dann herstellt, wenn sie ihm nützt. Und der sie laufend mit Bemerkungen kränkt, ohne auch nur zu ahnen, wie tief seine Kommentare schneiden.

Triers eigenes großes Regietalent sind Szenen von minutiöser psychologischer Genauigkeit, in denen ein Blick Bände spricht. Vor Emotionen förmlich vibrierend sind nicht nur die Momente zwischen den Töchtern und ihrem schwierigen Vater, sondern auch beiläufigere Interaktionen, etwa wenn Gustav seinen alten Kameramann aufsucht, um ihn für das neue Projekt zu engagieren, und dann kurz nach der Begrüßung schon einen Rückzieher macht, als er sieht, dass dieser inzwischen am Stock geht. Sein Gegenüber durchschaut ihn – und besitzt die Größe, auch gleich schon zu verzeihen.

Reinsve und Lilleaas sind großartig, aber Skarsgård hat hier seinen besten Auftritt seit langer Zeit: Ihm gelingt es, sowohl die Gefühlskälte seiner Figur zu zeigen als auch die Liebesbedürftigkeit darunter. Man muss ihn nicht sympathisch finden, aber, und das macht die Qualität dieses Films aus, man fühlt auf eine Weise mit ihm mit, die bereichert.

Sentimental Value Joachim Trier Norwegen 2025, 135 Minuten