Kiew Perenniale: Offene Bauchdecken und zerschmetterte Kronleuchter

Sulfurcherben zerbrochener Glasrohre liegen aufwärts dem Marmorboden, wenige Fragmente des gigantischen Kronleuchters im industriellen Stil sind an Metallstangen an jener Decke befestigt. Durch eine Glasfront hinter dieser Vanitas-Installation geht jener Blick aufwärts den Berliner Fernsehturm. Der zerstörte Kronleuchter gehört zu dem Kunstwerk „Salute“ von Danylo Halkin, dasjenige wiederum zu einer mehrteiligen Installation jener Künstlerinitiative DE NE DE gehört, und stammt ursprünglich aus dem 1975/76 erbauten Kino Salyut in Dnipro. Nun wurde er in die Galerieräume jener neuen Gesellschaft pro bildende Kunst (nGbK) am Berliner Alexanderplatz verfrachtet. Gewaltige fünf mal fünf Meter maß jener Kronleuchter einst und bestand aus insgesamt 1600 Elementen in Form eines gläsernen Feuerwerks. Jetzt sind da nur noch Scherben.

Großstadt und Mittelalter

Im Hintergrund ertönen polyphone Synthesizer-Melodien des Kiewer Komponisten Heinali, jener mit bürgerlichem Namen Oleh Shpudeiko heißt und in jener internationalen experimentellen Musikszene kein Unbekannter ist. An diesem Abend des 23. Februar präsentiert er sein Album „Kyiv Eternal“, dasjenige er ein Jahr zuvor aus Anlass des ersten Jahrestags jener russischen Invasion veröffentlicht hatte. Feldaufnahmen aus jener ukrainischen Hauptstadt vor dem Krieg, eingefangener Lärm aus jener Tram, Me­tro-Station-Durchsagen, Vogelgesänge, Geräuschkulissen nächtlicher Spaziergänge vertreten die konzeptionelle Basis des Albums, dazu gesellen sich die pro Heinalis Kompositionen charakteristischen mittelalterlich inspirierten polyphonen Melodien.

Im Rahmen jener „Kyiv Perenniale“ gab es voriges Wochenende gleich an drei Abenden Ausstellungseröffnungen, außer jener in jener nGbK am Alex nebensächlich in jener Kreuzberger Galerie Between Bridges sowie in jener ngbk in Hellersdorf. Das Datum markiert nicht nur genau zwei Jahre russische Großinvasion, sondern nebensächlich zehn Jahre Maidan-Revolution und damit verbundene russische Aggression. Konzipiert ist die Ausstellungsreihe ukrainischer Kunst wie Fortsetzung jener internationalen Kyiv Biennale 2023, im deren Rahmen seither Oktober Veranstaltungen nicht nur in Kiew, sondern nebensächlich in Iwano-Frankiwsk, Uschhorod, Warschau, Lublin, Antwerpen und Wien stattfanden. Das Adjektiv „perennial“ bedeutet aufwärts Englisch so viel wie für immer oder beständig.

Seins oder nicht seins: Getrübte Aussicht aus der nGbK am Alexanderplatz, in der ein Teil der nun eröffneten und nach Berlin verlegten „Kyiv Perenniale“ zu sehen ist.


Seins oder nicht seins: Getrübte Aussicht aus jener nGbK am Alexanderplatz, in jener ein Teil jener nun eröffneten und nachher Berlin verlegten „Kyiv Perenniale“ zu sehen ist.
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Bild: Benjamin Renter


Ziel des Biennale-Projekts ist es jener Eigenbeschreibung zufolge, „die durch den Krieg verbleibend ganz Europa verstreute Community ukrainischer Künstler wieder zusammenbringen“ sowie verbinden mit internationalen Kollegen erarbeitete künstlerische Antworten aufwärts die zahlreichen Herausforderungen, vor denen die Ukraine steht – seien sie kultureller, gesellschaftlicher oder ökologischer Natur –, zu präsentieren. Die künstlerische Leitung jener gesamten Biennale hat jener Direktor des Visual Culture Research Centers (VCRC) in Kiew, Vasyl Cherepanyn, inne, dasjenige große kuratorische Team pro den Berliner Ableger Perenniale besteht unter anderem aus Jörg Heiser, Lena Prents und Wolfgang Tillmans.

In einem kleinen Raum jener nGbK sinister vom Eingang begibt man sich in jener Installation „Everybody Wants to Live by the Sea“ aus dem Jahr 2014 von Nikita Kadan aufwärts eine Zeitreise durch die historischen Schichten jener Krim, die seither 2014 unter russischer Besatzung steht: Eine gebogene Neonröhre in jener charakteristischen Form jener Halbinsel hängt in jener Mitte des kleinen Raumes verbleibend den Köpfen jener Besucher und hüllt sie in kaltes Licht, eine Palme erzeugt zusammen eine Art Urlaubsatmosphäre.

In Vitrinen und an den Wänden sind verschiedene Fotografien und Dokumente ausgestellt, die teils futuristisch verwandelt sind: Typische Formen so­wjetischer Architektur sind darauf von hüttenartigen Behausungen jener Krimtataren ergänzt; historische Ebenen, im Gegensatz dazu nebensächlich Dokument und Fiktion einkopieren sich. Auf Stalins Befehl hin wurden die Krimtataren 1944 deportiert, erst nachher dem Zerfall jener Sowjetunion konnten sie in ihre Heimat zurückkehren und leben nun unter russischer Besatzung. Die Krim ist ein imaginierter Sehnsuchtsort mit Teerstuhl Geschichte und Gegenwart – und einer ungewissen Zukunft.

Projekt zur Aufbereitung von russischen Kriegsverbrechen

Einen direkten Bezug zur Gewalt des russischen Angriffskriegs nach sich ziehen Arbeiten des transdisziplinären Kollektivs „The Reckoning Project: Ukraine Testifies“, dasjenige sich jener Dokumentation und Aufbereitung von russischen Kriegsverbrechen widmet. Regisseurin Anna Tsyhyma und Journalistin Nataliya Gumenyuk thematisieren in einem 35-minütigen Film den Raketenangriff aufwärts den Bahnhof jener ostukrainischen Stadt Kramatorsk am 8. April 2022, durch den 61 Zivilisten starben und mehr wie 120 zerschunden wurden. Auf die Galeriewand projiziert sind Bilder jener Leichen und jener Verletzten, man sieht und hört die Augenzeugen­berichte jener Hinterbliebenen, die vom durchlebten Horror berichten. So erzählt eine Frau, wie sie den zerfetzten Leib ihres Ehemanns vorfand: die Bauchdecke ungeschützt, Kopf und Arm zerlumpt. Auch jene ukrainische Realität ist nun an den Alex gerückt.

Betont cooler Gangsterstyle: Videostill aus Mykola Ridnyis „The Battle over Mazepa“ aus dem Jahr 2023


Betont cooler Gangsterstyle: Videostill aus Mykola Ridnyis „The Battle over Mazepa“ aus dem Jahr 2023
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Bild: Mykola Ridnyi


Eine andere Perspektive aufwärts die heutige Ukraine eröffnet die Installation jener Künstlerinitiative DE NE DE, die sich mit dem sowjetischen Architektur- und Kunsterbe des Landes auseinandersetzt. Auf Deutsch bedeutet jener Name jener seither 2015 bestehenden Initiative DE NE DE „hier und da“ oder wortwörtlich „wo nicht wo“. Feste Mitglieder gibt es nicht, zu den unter diesem Namen ausstellenden Künstlern gehört neben Halkin etwa Zhanna Kadyrova.

Seit Beginn des Ukrainekriegs 2014 und im ­Zuge jener wie Reaktion aufwärts ihn zu verstehenden Dekommunisierungsgesetze ab 2015 wird dasjenige sowjetische Erbe pauschal wie „russischer Einfluss“ wahrgenommen und in jener ukrainischen Öffentlichkeit zunehmend stigmatisiert. So wurden nicht nur Lenin-Statuen, sondern nebensächlich bedeutende Kulturgüter zerstört. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, jener Kronleuchter sei vielleicht von russischen Raketen oder Drohnen zerschmettert worden. Tatsächlich musste er im Gegensatz dazu im Zuge ebendieser ­Dekommunisierung zusammen mit dem sowjetischen Kinogebäude, dasjenige er schmückte, 2021 einem gesichtslosen neuen Wohnkomplex weichen.

Die Kunstwerke vereint ihr dokumentarischer Charakter

Die ausgestellten Kunstwerke vereint ihr dokumentarischer Charakter: Sie bezeugen dasjenige Grauen und die Zerstörung, dasjenige jener russische Angriffskrieg verbleibend die Ukraine gebracht hat – mal in direkter Weise, wie dem Tod unzähliger Zivilisten durch rohe Gewalt, mal in indirekter, wie jener aus jener Abneigung zu allem Russischen und Sowjetischen erwachsenen Dekommunisierung. Die Bildsprache variiert, ist rechtzeitig zur Musik des Eröffnungsabends polyphon, doch sie operiert stets mit Empathie.

In jener Galerie Between Bridges wiederum eröffnete eine kleinere Ausstellung, die noch solange bis 4. Mai geöffnet ist. Zu sehen sind vorwiegend Videos, so dasjenige irgendwas zu gewollt coole englischsprachige Rap-Battle verbleibend die historische Figur des Kosaken-Hetmans Mazepa von Mykola Ridnyi. In einer eindrucksvollen konzeptuellen Arbeit verbleibend dasjenige von russischen Truppen geplünderte Chersoner Museum pro Lokalgeschichte des Duos Yarema Malashchuk und Roman Khimei schwenkt die Kamera verbleibend die leeren Orte, an denen die Kulturgüter vor dem Raub platziert waren: Eine Stimme aus dem Off berichtet, welches in Zukunft an diesen Leerstellen zu bestaunen sein wird – wenn es denn gelingen sollte, die gestohlenen Objekte zu finden.

Besonders prägt sich dasjenige Werk eines anonymen Künstlerkollektivs ein, dasjenige verbleibend fünf Stunden Amateur-Videomaterial aus dem Zeitraum 2014 solange bis 2018 verbleibend den Donbass-Krieg zu einem Mosaik jener Ideologie und Gewalt zusammenmontierte. Auch „To Watch a War (A Film Found on the Internet)“ aus dem Jahr 2018 wirft viele Fragen aufwärts: Wer sind die Menschen, die dasjenige filmten, und welches ist aus ihnen geworden? Wer suchte und schnitt den Film aufwärts jene Weise zusammen? Und wieso kann man sich von diesen – teils desynchronisierten und dekonstruierten – Kriegsbildern kaum losreißen?

Die historischen Schichten von Babyn Jar

Schließlich begaben sich wenige Besucher an den Rand Berlins zum nGbK Hellersdorf, um den dritten Schauplatz jener Perenniale zu sehen. Dort sind solange bis zum 9. Juni zwei Arbeiten ausgestellt, die sich mit Erinnerungsdiskursen befassen: Die Ukrainerin Anna Scherbyna und die Österreicherin Christina Werner setzen sich in einer gemeinsamen Installation mit den historischen Schichten des Ortes Babyn Jar in Kiew entzwei, einem Schauplatz jener Schoa, an dem im September 1941 intrinsisch von 48 Stunden mehr wie 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden. Dieser „Holocaust durch Kugeln“ in Osteuropa bildet nachher wie vor eine Leerstelle in deutschen Erinnerungsdiskursen, die nur langsam ins Bewusstsein jener Öffentlichkeit tritt.

Wie kollektive Erinnerung und Familiengeschichte miteinander verwoben sind, demonstriert jener Berliner Künstler Leon Kahane. Sein Großvater begleitete die Nürnberger Prozesse wie sowjetischer Journalist. Die Kopien jener Prozessakten ordnete er mit aus abgerissenen Sowjetzone-Propagandaplakaten bestehenden selbstgebastelten Indexkarten. In Kahanes Werk „Gedenken unserer durch die Tat!“ sind jene Sowjetzone-Plakatfragmente stark vergrößert an den Wänden jener Galerie zweckmäßig, aufwärts einem von ihnen prangt eine Friedenstaube.

Kahane ging in einer kurzen Einführung darauf ein, dass sich die Sowjetzone nie wie NS-Nachfolgestaat gesehen und umgekehrt jegliche Verantwortung pro die Schoa und den Krieg von sich gewiesen habe. Spuren dieser historischen Verdrehung sehe man noch heute: So seien seine Arbeiten zunächst in einer Galerie am Rosa-Luxemburg-Platz neben jener Volksbühne gezeigt worden: „Während dieses Poster dort hing, wehten aufwärts jener Volksbühne die Friedenstauben“, keine Ukraineflaggen – dasjenige ritualisierte Anrufen des Friedens wie Verdrängungs- und Gewaltakt.

Begleitet wird dasjenige die Gesamtheit von zahlreichen Veranstaltungen: Am 9. März etwa stellt dasjenige ukrainische „Center for Spatial Technology“ seine forensische Rekon­struktion des russischen Luftangriffs aufwärts dasjenige Theater von Mariupol vor. Am 22. März findet ein Gespräch verbleibend sozialistischen Realismus mit jener Künstlerin Yevheniia Moliar von DE NE DE und dem Architekturkritiker Wolfgang Kil statt, am 20. April gibt es eine Diskussion verbleibend die Psychoanalyse des Krieges mit Yurko Prokhasko. Und im Juni soll eine weitere Schau in jener Prater-Galerie eröffnet werden.

Kyiv Perenniale. NGbK Alexanderplatz und Hellersdorf u.a., Berlin; solange bis 9. Juni. Kein Katalog.

Source: faz.net