Kibbuz Nahal Oz: 365 Tage im Stich gelassen

Am Morgen des 27. Oktober, einem
Freitag, fuhr ein Auto mit Diplomatenkennzeichen durch das Eingangstor von
Mischmar haEmek, einem Kibbuz im nördlichen Zentralisrael, unweit von Haifa.
Die Sonne schien, und die idyllische Kibbuzszenerie – große grüne
Rasenflächen, hohe Bäume, Häuser mit hübsch angelegten Gärten – wurde nur durch
das Geräusch israelischer Kampfjets gestört, die auf einem nahe gelegenen Flugfeld
starteten, um Bombenangriffe auf Gaza zu fliegen.

Das Diplomatenfahrzeug hielt vor
dem Speisesaal des Kibbuz, und der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert, stieg aus. Er war an diesem Morgen eingetroffen, um den Menschen aus
dem Kibbuz Nahal Oz einen Besuch abzustatten, einer Gemeinde, die 180 Kilometer
südwestlich von Mischmar haEmek liegt, sehr nah an der israelischen Grenze zu
Gaza.

Am 7. Oktober war Nahal Oz, die
Heimat von 450 Menschen, einer der ersten Orte in Israel, der von der
Terrorarmee der Hamas überfallen wurde. Mehr als hundert bewaffnete Terroristen
drangen in den kleinen Kibbuz ein, auf der Mission, seine Bewohner zu töten und
zu entführen. Über viele Stunden führte eine kleine Gruppe Verteidiger –
bestehend aus Kibbuzbewohnern, die Waffen im Haus verwahrten, und einer
winzigen Truppe Grenzschutzsoldaten, die in der Nähe stationiert waren – einen
heldenhaften Kampf gegen die Terroristen und versuchte, den Angriff abzuwehren.

Dreizehn israelische
Kibbuzbewohner wurden an diesem Tag ermordet. Der Jüngste von ihnen war ein
17-jähriger Junge, der älteste ein 87-jähriger Großvater. Die Terroristen
ermordeten auch zwei Ausländer, die sich an diesem Morgen im Kibbuz aufhielten:
einen Landarbeiter aus Thailand und einen Studenten aus Tansania, dessen
Leichnam anschließend von der Hamas nach Gaza verschleppt und bis heute nicht
herausgegeben wurde.

Sie entführten auch sieben
israelische Kibbuzmitglieder aus der kleinen Gemeinde – darunter ein
achtjähriges Mädchen und eine 84-jährige Frau. Fünf Geiseln aus Nahal Oz wurden
später im Rahmen des Geiselabkommens, das von Präsident Biden im November eingefädelt
wurde, freigelassen. Doch während Sie diesen Artikel lesen, befinden sich zwei
Geiseln aus der Gemeinde, Omri Miran und Tzachi Idan, beide sind Väter kleiner
Kinder, immer noch in den Händen der Hamas.

An diesem angenehm milden Morgen Ende
Oktober war Botschafter Steffen Seibert auf meine Einladung nach Mischmar haEmek gekommen, um der Familie Idan Trost zu spenden. Diese Familie musste
nicht nur mit dem ungewissen Schicksal von Tzachi zurechtkommen, den seine Frau
Gali zuletzt sah, als er von den Terroristen aus seinem Haus abgeführt wurde –
mit hinter dem Rücken gefesselten Händen und einem auf seinen Kopf gerichteten
Gewehr. Zusätzlich zu diesem Albtraum musste sie auch noch die Trauer über den
Tod von Ma’ayan, der ältesten Tochter der Familie, bewältigen, die am 7.
Oktober, nur vier Tage nach ihrem 18. Geburtstag, ermordet wurde.

Ma’ayan war ein geliebtes und allseits
geschätztes Mädchen, das nach der Schule im Kibbuzkindergarten arbeitete.
Meine beiden Töchter, damals dreieinhalb und zwei Jahre alt, kannten Ma’ayan
gut und freuten sich immer sehr, wenn sie Zeit mit ihr verbringen konnten.
Nachdem meine eigene Familie den Angriff des 7. Oktober auf Nahal Oz überlebt
hatte – wir hatten uns über viele Stunden in unserem Haus verschanzt, in vollkommener
Dunkelheit, ohne Essen oder Strom, umgeben von Terroristen, die erfolglos versuchten,
in unser Haus einzubrechen und uns zu töten –, brachte ich es nicht über mich,
den Mädchen zu erzählen, dass sie Ma’ayan nie wiedersehen würden.

Ich wohnte seit 2014 in Nahal Oz.
Damals hatten meine Frau und ich die ideologisch motivierte Entscheidung
getroffen, uns einem Kibbuz nahe der israelischen Grenze anzuschließen, direkt
gegenüber des Grenzzauns. Botschafter Seibert wusste, dass ich dort lebte – wir
kannten uns über meine Arbeit als Korrespondent für internationale Beziehungen bei
der Ha’aretz, der führenden Tageszeitung in Israel. So wie auch andere in
Israel stationierte ausländische Diplomaten, mit denen ich berufliche
Beziehungen pflege, machte er sich während der langen, entsetzlichen Stunden
des 7. Oktober
große Sorgen um mich und war sehr erleichtert, als er am frühen Morgen
des 8. Oktober herausfand, dass ich am Leben war.

Nachdem meine Familie überlebt
hatte und mit den übrigen Mitgliedern der Gemeinde nach Mischmar haEmek
evakuiert worden war, rief er mich an. Er hatte nur eine Frage: Wie kann ich
helfen?

Ich erzählte ihm von unseren
sieben Geiseln und erwähnte dabei, dass Tzachis Frau Gali aus einer Familie mit
deutschen Wurzeln stammt. Ihr Vater ist ein Holocaustüberlebender, der in
Deutschland geboren und aufgewachsen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging er
nach Israel, fest entschlossen, dort – in dem einzigen Land auf der Welt, in
dem er Juden in Sicherheit wusste – eine neue Heimat aufzubauen. Sieben
Jahrzehnte später ermordeten Terroristen seine Enkelin und entführten seinen
Schwiegersohn.

Botschafter Seibert erwiderte ohne
zu zögern, dass er kommen wolle, um diese Familie zu treffen. Ich fragte Gali,
was sie von der Idee hielt, und sie stimmte sofort zu. Wie so viele Familienangehörige
der Geiseln war sie in ihrem Kampf, ihren Ehemann lebend zurückzuholen, verzweifelt
auf der Suche nach jeder Hilfe, die sie bekommen konnte. Und so geleitete ich den
Botschafter an diesem Freitagmorgen von seinem Fahrzeug zu einer kleinen Grünanlage
im Zentrum des Kibbuz, wo sich die Familie Idan und einige andere Freunde aus
unserer Gemeinde bereits versammelt hatten.

Ich redete nicht viel während
dieses Treffens, schließlich war ich als Galis Freund anwesend und nicht als
Journalist. Doch während sich der Botschafter geduldig Galis so schmerzliche
Geschichte anhörte, ließ mich ein verstörender Gedanke nicht los: Hier saß ein
Repräsentant einer ausländischen Regierung bei meiner Nachbarin, hielt ihre
Hand, spendete ihr Trost angesichts der verabscheuungswürdigen Verbrechen, die
ihrer Familie angetan worden waren, und fragte immer wieder, was er und sein
Land tun könnten, um sie zu unterstützen – während auch drei Wochen nach dem
Massaker des 7. Oktober noch kein Repräsentant unserer eigenen Regierung, der
Regierung des Staates Israel, die Zeit gefunden hatte, vielleicht auch nicht
den Mut, nach Mischmar haEmek zu kommen und eine ähnliche Geste zu zeigen.

Das trifft auf die ersten Tage
nach dem 7. Oktober zu, als unsere Gemeinde um die Freunde, die wir verloren
hatten, trauerte; und so ist es bis heute geblieben. Der Angriff der Hamas jährt
sich nun zum ersten Mal, und während des gesamten Jahres ist kein einziger
Minister aus der Regierung Netanjahu erschienen, um unsere Gemeinde zu
besuchen.

Es gab einen Besuch am 15.
Oktober von dem ehemaligen Ministerpräsidenten, Naftali Bennett, auch führende
Vertreter der wichtigsten Oppositionsparteien wie Jair Lapid und Benny Gantz kamen
zu uns, um uns ihre Unterstützung anzubieten und unsere Geschichten anzuhören.
Doch aus der Regierung, die an jenem Tag die Verantwortung trug, als unsere
Feinde die Grenze durchbrochen hatten und gekommen waren, uns zu töten, machte
sich niemand die Mühe, bei uns zu erscheinen. Man kümmerte sich nicht um uns,
Mitgefühl erhielten wir nur von ausländischen Gesandten.

Das war nicht immer so in Israel.
Es gab einmal eine Zeit, da hatten wir Anführer, die Verantwortung für ihre
Entscheidungen übernahmen, die willens und imstande waren, den Menschen
gegenüberzutreten, die von diesen Entscheidungen betroffen waren.