Keine Neuauszählung? Bundestag soll BSW-Beschwerde abschmettern – wie eine Grüne dies erklärt

Mehr als ein Dreivierteljahr nach seiner Wahl nähert sich der Bundestag einer Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde des BSW. Den Mitgliedern des zuständigen Wahlprüfungsausschusses liegt eine Beschlussvorlage vor, dernach das Parlament die Beschwerde ablehnen soll.

In der von Table Media veröffentlichten Beschlussvorlage heißt es: Die Einsprüche sind unbegründet. Anhand des Vortrags der Einspruchsführer kann kein mandatsrelevanter Verstoß gegen Wahlrechtsvorschriften und damit kein Wahlfehler festgestellt werden.“ Entscheidend ist dabei die „Mandatsrelevanz“. Vereinfacht gesagt, argumentiert der Wahlprüfungsausschuss so: Bei der Auszählung der Bundestagswahl 2025 mögen Fehler geschehen sein, die aber auf das Ergebnis und die Sitzverteilung im Parlament letztlich keinen entscheidenden Einfluss haben.

Das BSW hingegen verweist darauf, dass ihm im amtlichen Endergebnis der Bundestagswahl 4.277 Zweitstimmen mehr als im vorläufigen Endergebnis zugesprochen worden waren. Allerdings habe nur in einem Bruchteil der 95.109 Wahlbezirke in Deutschland eine vollständige Neuauszählung der Stimmzettel stattgefunden. Bei einer Neuauszählung in allen Wahlbezirken rechnet das BSW folglich damit, dass auf die Partei weitere zehntausende Stimmen entfielen.

Der Wahlprüfungsausschuss tagt am 4. Dezember

Dem amtlichen Endergebnis zufolge kam das BSW auf 2.472.947 Zweitstimmen und somit 4,981 Prozent. Um die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen und in den Bundestag einzuziehen, fehlen lediglich 9.529 Stimmen.

Die nächste Sitzung des Bundestag-Wahlprüfungsausschusses ist für den 4. Dezember terminiert. Stimmt der Ausschuss, etwa mit der Mehrheit der schwarz-roten Regierungskoalition, der Vorlage zu, so muss diese noch im Plenum des Parlaments zur Abstimmung gebracht werden. Lehnt auch das Plenum die Wahlprüfungsbeschwerde des BSW ab, kann dieses danach seine Ankündigung für diesen Fall umsetzen und Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einlegen.

Julia Klöckner, Armin Laschet und JU-Chef Johannes Winkel könnten ihre Mandate velieren

Dass der Wahlprüfungsausschuss zu dieser Entscheidung kommt, ist keine Überraschung. Würde eine Neuauszählung der Wahl den Einzug des BSW in den Bundestag zur Folge haben, hätten Bundeskanzler Friedrich Merz und seine Koalition aus CDU, CSU und SPD keine Mehrheit mehr. Etliche jetzt im Bundestag vertretene Abgeordnete würden ihre Mandate verlieren – laut Aussagen des CSU-Politikers Volker Ullrich in der Augsburger Allgemeinen wären darunter Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), Ex-Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) und der Chef der Jungen Union, Johannes Winkel, also einer derer, die die Koalition im Rentenstreit derzeit an den Rande des Zusammenbruchs bringen.

Über das BSW hinaus war zuletzt Kritik daran laut geworden, dass überhaupt der Bundestag zunächst selbst über die Rechtmäßigkeit seiner Wahl entscheiden kann – und bis zu dieser Entscheidung viel Zeit einer laufenden Legislaturperiode vergeht. So forderte der Jurist und CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Plum in einem Gastkommentar bei Legal Tribune Online: „Aus dem bisherigen zweistufigen Wahlprüfungsverfahren muss ein einheitliches, einstufiges Verfahren werden. Die Wahlprüfung braucht einen einzigen neutralen Richter, der objektiv und frei von parteipolitischen Einflüssen entscheidet.“ Plum war Richter und ist Obmann der Unions-Fraktion im Bundestag-Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sowie Mitglied im Ausschuss für Digitales und Staatsmodernisierung.

Nach der Berliner Pannenwahl 2021 dauerte es zweieinhalb Jahre bis zur Wiederholung

Er erinnerte in seinem Gastkommentar an die Bundestagswahl in Berlin 2021: Nach zahlreichen offensichtlichen Pannen beschloss der Bundestag ein Jahr nach der Wahl, diese in etlichen Berliner Wahlbezirken wiederholen zu lassen. Eine Klage auf eine noch umfassendere Wahlwiederholung ließ weitere 13 Monate vergehen, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte und die Bundestagswahl in Berlin, ebenso wie die Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen, teilweise wiederholt werden konnte. Zwischen dem ursprünglichen Wahltag26. September 2021 und der Wiederholungswahl am 11. Februar 2024 waren also fast zweieinhalb Jahre vergangen.

Schon damals erwogen Union und SPD, über Wahlprüfungsbeschwerden künftig allein das Bundesverfassungsgericht entscheiden zu lassen. Der damalige parlamentarische Geschäftsführer der CDU-/CSU-Fraktion und heutige Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) machte in der FAZ einen entsprechenden Vorschlag. Doch das Ganze versandete. Wann jetzt mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Beschwerde des BSW zu rechnen ist, ist nicht absehbar.

Das sagt die Grünen-Vertreterin im Wahlprüfungsausschuss

Würde das BSW nach einer Neuauszählung in den Bundestag einziehen und Kanzler Merz seine Mehrheit verlieren, müssten Union und SPD also entweder die Grünen als Koalitionspartner hinzunehmen oder es käme zu einer Minderheitsregierung oder gleich zu Neuwahlen.

Die Vertreterin von Bündnis 90/Die Grünen im Wahlprüfungsausschuss, Linda Heitmann, sagte auf Freitag-Anfrage: „Der Wahlprüfungsausschuss hat die Einsprüche sorgfältig geprüft. Grundlage waren die Vorträge der Einspruchsführer sowie die Stellungnahmen der Bundeswahlleitung und der Landeswahlleitungen. Die Prüfung konnte keine Wahlfehler feststellen. Eine erneute Auszählung ohne nachvollziehbaren Anlass wäre daher auch aus demokratietheoretischer Sicht ein problematisches Signal.“ Denn eine solche Neuauszählung könne laut Heitmann dazu führen, „dass künftig bei jeder Unzufriedenheit erneut gezählt werden soll. Das würde das Vertrauen in die Wahlverfahren und die demokratischen Abläufe schwächen“.

Wie die oppositionelle Linksfraktion mit der Beschlussvorlage umgehen will, ist noch unklar. Eine Antwort auf eine Anfrage vom Freitagmorgen an ihren Vertreter im Wahlprüfungsausschuss, Sören Pellmann, steht noch aus. Die AfD-Fraktion hatte angekündigt, sich für eine Neuauszählung auszusprechen.

So reagiert das designierte BSW-Führungsduo Fabio De Masi und Amira Mohamed Ali

Der BSW-Europaabgeordnete Fabio De Masi, der in einer Woche beim Bundesparteitag in Magdeburg zu Sahra Wagenknechts Nachfolger als Parteivorsitzender gewählt werden soll, reagierte mit den Worten „Verrat an Demokratie und Rechtsstaat!“ auf die Beschlussvorlage des Wahlprüfungsausschusses: „Wie von uns vorausgesagt, will die Große Koalition unseren Wahleinspruch trotz belegter struktureller Zählfehler zu Lasten des BSW ablehnen! Dafür gibt es nur einen Grund! Die Mehrheit von Merz. Wir werden nach Karlsruhe ziehen!“

Amira Mohamed Ali, mit der De Masi künftig die Parteispitze bilden soll, sagte dem Freitag: „Die Beschlussempfehlung ignoriert von uns vorgetragene Argumente und Fakten im großen Stil und zieht absurde Schlussfolgerungen, um bloß nicht anerkennen zu müssen, was ist: Es muss nachgezählt werden, denn das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl ist falsch.“ Sie halte die Beschlussempfehlung „für juristisch absolut nicht haltbar“. Würde der Bundestag „dieser hanebüchenen Beschlussempfehlung tatsächlich folgen und unseren Einspruch ablehnen, dann ist für mich klar, dass diesen Abgeordneten die Demokratie nichts bedeutet und es ihnen nur um die Sicherung ihrer eigenen Mandate geht – koste es, was es wolle.“ Sie glaube aber an den Rechtsstaat, sagte Mohamed Ali, und sei daher zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht dem Einspruch stattgeben werde. „Das einzig Gute ist, dass der Bundestag jetzt, nach neun Monaten Bummelstreik, endlich den Weg frei macht für unseren Weg nach Karlsruhe.“