Kein Wachstum seither 2019: Die Wirtschaftskrise will nicht weichen
Wenn Katherina Reiche öffentlich auftritt, hat sie oft eine Reihe von Zahlen dabei. Diese hier hat die Bundeswirtschaftsministerin in letzter Zeit gleich mehrfach genannt: In Deutschland ist die Wirtschaft seit dem Jahr 2019 so gut wie gar nicht gewachsen. Um gerade mal 0,3 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt seitdem, bereinigt um die Inflation, gestiegen. In den Vereinigten Staaten legte es in dieser Zeit um zwölf Prozent zu.
Auch andere Volkswirtschaften in Europa sind gewachsen, die italienische zum Beispiel um mehr als fünf Prozent. Ganz zu schweigen von China: fast 30 Prozent Wachstum seit 2019. „Deutschland droht zurückzufallen“, warnte Reiche, als sie im Oktober die neue Konjunkturprognose der Regierung vorstellte. „Wir müssen um unseren Wohlstand kämpfen.“
Ob Volkswagen oder Daimler, Bosch oder Thyssenkrupp: Aus der Wirtschaft kommen derzeit beinahe täglich schlechte Nachrichten. Viele Unternehmen bauen in großer Zahl Stellen ab. Rund 150.000 Arbeitsplätze sind laut der Bundesagentur für Arbeit in der Industrie innerhalb von zwölf Monaten verloren gegangen.
Jeder dritte Betrieb will Arbeitsplätze abbauen
Im Kanzleramt fand bereits ein Krisengipfel zur Lage der Autoindustrie statt, an diesem Donnerstag folgt ein weiterer zur Situation der Stahlbranche. Diese ächzt unter der günstigen Konkurrenz aus China und den Kosten der Klimatransformation. Laut einer Umfrage des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft will jeder dritte Betrieb hierzulande im kommenden Jahr Arbeitsplätze abbauen. Die Wirtschaftskrise will nicht weichen.
Kein günstiges Gas mehr aus Russland, weniger Nachfrage nach deutschen Produkten aus China, dazu die Zollpolitik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump: Es ist der perfekte Sturm, der sich über der deutschen Wirtschaft zusammengezogen hat. Früher konnten die Unternehmen mit den gut laufenden Geschäften im Ausland die hohe Steuer-, Sozialabgaben- und Bürokratielast im Inland kompensieren. Jetzt aber spüren sie den Druck von allen Seiten.
Spätestens bis Weihnachten müssten Reformen sichtbar sein, mahnte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Peter Leibinger, Mitte September. „Die Lage ist nicht nur ernst, sie ist bedrohlich“, warnte Maschinenbaupräsident Bertram Kawlath.
Das Entsetzen über die Prioritäten der Koalition waren groß
Die im Kanzleramt gehegte Hoffnung, dass schon allein der Wechsel von einer SPD– zu einer CDU-geführten Regierung einen Stimmungsumschwung in der Wirtschaft auslösen würde, hat sich nicht erfüllt. Die noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen beschlossenen Schuldenpakete für die Verteidigung und die Infrastruktur wurden zwar allgemein begrüßt. Vor allem die Rüstungs- und die Bauindustrie können sich auf zusätzliche Aufträge freuen.
Auch der Anfang Juni vom Kabinett beschlossene „Investitionsbooster“, verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für neue Anlagen und eine Senkung der Körperschaftsteuer vom Jahr 2028 an, kam in der Wirtschaft gut an. Doch als dann der Koalitionsausschuss entschied, die Stromsteuer doch nicht wie versprochen für alle Verbraucher zu senken, sehr wohl aber die Mütterrente zu erhöhen, war das Entsetzen über die Prioritäten der Koalition groß. Beide Maßnahmen kosten etwa das gleiche, rund fünf Milliarden Euro im Jahr.

Und das war noch nicht alles. Das vom Kabinett beschlossene Rentenpaket erhöht, falls die jungen Wilden in der CDU es nicht noch stoppen, die Kosten des Systems bis zum Jahr 2040 um rund 200 Milliarden Euro. Mit dem Tariftreuegesetz kommt auf die Unternehmen mehr statt weniger Bürokratie zu. Künftig müssen sie gegenüber einer neuen Behörde nachweisen, dass sie nach Tarif zahlen, wenn sie einen Auftrag der öffentlichen Hand bekommen wollen. Statt die drängenden Reformen in der Gesundheits- und Rentenversicherung anzugehen, lässt die Regierung erst wieder neue Kommissionen darüber beraten.
Ausgerechnet einer der Wegbereiter der schwarz-roten Koalition schlug nun Alarm: Clemens Fuest, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Fuest hat zusammen mit anderen Ökonomen in den Tagen nach der Bundestagswahl das Konzept für die zusätzliche Neuverschuldung geschrieben. Er bereue nicht, dass er das getan habe, sagte Fuest. Aber ihn ärgert, dass ein Teil der Mittel für die Investitionen für andere Zwecke verwendet wird und dass vom zweiten Teil der Abmachung – Strukturreformen – bislang so wenig zu sehen ist. Fuest warnte: „So ist die Gefahr groß, dass es nur ein kurzes konjunkturelles Strohfeuer gibt und Deutschland danach schlechter dasteht als vorher – nicht wettbewerbsfähig, aber mit einer enorm gestiegenen Zinslast.“
„Das wird nicht mehr lange durchzuhalten sein“
Vor Kurzem veröffentlichte der Ökonom eine Grafik, die den Verfall der privaten Investitionen seit dem Jahr 2019 und den gleichzeitigen Anstieg der Staatsausgaben zeigt. „Das wird nicht mehr lange durchzuhalten sein“, prognostizierte Fuest. Man muss dazu wissen, dass rund 90 Prozent der Investitionen in Deutschland aus der Privatwirtschaft kommen, nicht von der öffentlichen Hand. Investieren die Unternehmen weniger, benötigen sie weniger Arbeitskräfte, zahlen weniger Steuern. Am Ende der Kette hat der Staat weniger Geld zum Verteilen. Der aktuelle politische Kurs gehe in „die vollkommen falsche Richtung“, sagte Fuest. „Wir befinden uns in einer massiven Krise. Das ist so noch nicht allen bewusst.“
Im Kanzleramt wurde die Grafik dankbar aufgenommen und verbreitet. Friedrich Merz hatte seinen Wahlkampf wesentlich mit dem Versprechen bestritten, dass er Deutschland zurück auf den Wachstumspfad führen werde. Es folgte die Ankündigung eines „Herbst der Reformen“, der sich immer weiter nach hinten verschiebt.

Der Kanzler präsentierte die Grafik von Fuest sowohl in der Präsidiumssitzung der CDU als auch in der Fraktionssitzung, verbunden mit mahnenden Worten, wie Teilnehmer berichteten. So wie bisher könne es nicht weitergehen, es müssten nun wirklich Reformen zur Stärkung der Wirtschaft kommen. Der eigentliche Adressat aber ist die SPD, in der schon eine vergleichsweise kleine Reform wie die Umwandlung des Bürgergelds in eine (etwas) restriktivere Grundsicherung auf Widerstand stößt.
In diesen Tagen tritt immer stärker ein Problem zutage, das sich schon am Ende der Koalitionsverhandlungen abzeichnete: Die CDU hat in dieser Koalition auf die Wirtschaftspolitik vergleichsweise wenig Einfluss. Zwar ist mit Katherina Reiche eine CDU-Politikerin qua Bezeichnung ihres Amtes dafür zuständig, sich um die Wirtschaft in Deutschland zu kümmern. Seit Anfang Mai ist die frühere Vorstandsvorsitzende von Westenergie Bundesministerin für Wirtschaft und Energie. Doch der gesetzgeberische Einfluss ihres Hauses beschränkt sich weitgehend auf die Energiepolitik.
Das unterscheidet Reiche von Klingbeil
Eine Reform zur Senkung der Einkommensteuer müsste aus dem Finanzministerium kommen, eine zur Senkung der Sozialausgaben aus dem Ministerium für Arbeit und Soziales. Beide Häuser konnte sich die SPD sichern. Die Hoffnung von Carsten Linnemann, in der neuen Regierung ein fusioniertes Wirtschafts- und Arbeitsministerium oder zumindest das Arbeitsministerium in seiner heutigen Form übernehmen zu können, erfüllte Merz seinen Generalsekretär nicht.
Reiche kam erst ins Spiel, als nach Linnemann auch der heutige Fraktionsvorsitzende Jens Spahn das Wirtschaftsministerium abgelehnt hatte. Reiche wusste, worauf sie sich einließ. In ihrer Antrittsrede vor den Mitarbeitern kündigte sie an, das „ordnungspolitische Gewissen“ der Regierung sein zu wollen. Reiche war zehn Jahre raus aus der Politik. Sie hat nach eigener Aussage keine politischen Ambitionen über ihre aktuelle Aufgabe hinaus.
Das unterscheidet sie von Finanzminister Lars Klingbeil, der sich 2029 wahrscheinlich als Kanzlerkandidat der SPD empfehlen möchte. Reiche kann dadurch im Kabinett freier aufspielen als andere Minister und Ministerinnen. Doch was nutzt ein ordnungspolitisches Gewissen, wenn keiner darauf hören will?
Öffentlich verteidigen wollte Merz seine Wirtschaftsministerin nicht
Als die Wirtschaftsministerin Ende Juli im Gespräch mit der F.A.Z. eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit forderte, („Wir können nicht ein Drittel des Erwachsenenlebens in Rente verbringen“), war nicht nur in der SPD die Ablehnung groß. Auch aus ihrer eigenen Partei bekam Reiche kaum Rückendeckung. Ein Vertreter des Sozialflügels der CDU bezeichnete sie wegen ihrer Forderung gar als „Fehlbesetzung“.
Dabei hatte Reiche nur etwas gesagt, was von Ökonomen schon seit Jahren zu hören ist. Die sogenannte Rente mit 63, der vorzeitige Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren, gilt angesichts der demographischen Entwicklung in Deutschland als ein Fehlanreiz, der dringend abgeschafft werden sollte. Doch wenn es um Zumutungen für die eigene Klientel geht, erlischt auch in der Union die Reformbegeisterung schnell. Intern soll Merz Reiche zugestimmt haben. Öffentlich verteidigen wollte er seine Wirtschaftsministerin indes aus Rücksicht auf die SPD nicht.

Die meisten Ökonomen sind sich einig, dass der Koalitionsvertrag dem Ernst der Wirtschaftslage schon im Frühjahr nur unzureichend gerecht wurde und dass er heute, angesichts der Zuspitzung der Handelskonflikte zwischen den USA, China und der EU, erst recht einer Überarbeitung bedürfte. Reiche sieht das ähnlich. Doch nach der Aufregung über ihre Äußerungen zur Rente und über ihre skeptischen Worte zum deutschen Klimaziel ist sie vorsichtiger geworden.
Am Rande eines Treffens mit Industrieministern anderer EU-Länder Anfang der Woche verpackte sie ihre Kritik in diesem Satz: „Ich glaube, dass die Dynamik und der Druck, der auf uns lastet, uns zu der Frage bringen müssen, ob wir schneller und mutiger vorangehen, ob das, was wir uns vorgenommen haben in der Koalition, angesichts der technologischen Entwicklungen und geopolitischen Verwerfungen ausreicht.“
Bessere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft
Anders als ihr Vorgänger Robert Habeck (Grüne) ist Reiche keine Politikerin, die andere verbal umarmt, weder Koalitionspartner noch Wähler. Sie spricht lieber durch Zahlen. Anfang Oktober, bei der Vorstellung der neuen Wachstumsprognose der Regierung, entlarvte sie die Politik der schwarz-roten Koalition als auf Pump gebaut. Die 1,3 beziehungsweise 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum, mit denen ihr Ministerium 2026 und 2027 rechnet, gingen zum Großteil auf die zusätzlichen Schulden zurück, erklärte sie. Beim sogenannten Potentialwachstum, das die Wachstumsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft ohne solche externen Faktoren vermisst, bleibe Deutschland dagegen weiter unter den Schlusslichtern in Europa.
Für ein höheres Potentialwachstum bräuchte es bessere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Doch auch nach der schrittweisen Senkung des Körperschaftsteuersatzes wird die Steuerbelastung für Unternehmen noch höher sein als im Durchschnitt der OECD-Länder. Die Sozialabgaben, für die viele Jahre in Summe 40 Prozent als maximal verkraftbare Obergrenze galten, bewegen sich aktuell in Richtung 45 Prozent. Der Industriestrompreis verschafft energieintensiven Unternehmen nur für drei Jahre Entlastung. Planungssicherheit für Investitionen bekommen die Unternehmen dadurch nicht.
Wie soll es jetzt weitergehen? Mit der AfD sitzt Union und SPD eine Partei im Nacken, die aus der Opposition heraus alles versprechen kann – höhere Renten niedrigere Steuern, eine blühende Industrie –, ohne dies in einen tragfähigen Bundeshaushalt übersetzen zu müssen. „Eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede des Kanzlers würde wahrscheinlich eher zu Widerstand führen“, sagte Ökonom Fuest. Aber es gebe auch Reformen, die nicht so wehtäten wie eine Abschaffung der Rente mit 63. „Weniger Bürokratie, schnelle Genehmigungsverfahren: Damit ließe sich schon viel erreichen. Viele staatliche Zuschüsse, ob für Lastenfahrräder, Wollwindeln oder die Reparatur von Waschmaschinen, können ersatzlos weg. Sinnvoll wäre auch weniger Kündigungsschutz für neue Arbeitsverhältnisse.“
Nachdem er in den ersten Monaten der Koalition wenig sichtbar war, mischt auch Carsten Linnemann wieder mehr in der Wirtschaftspolitik mit. Einen „radikalen Rückbau von Bürokratie und einem klaren Fokus auf die Förderung von Innovationen“, forderte der CDU-Generalsekretär. Er teilt das Lagebild von Fuest und die Einschätzung, dass noch nicht alle die Dramatik dieser Wirtschaftskrise begriffen hätten. „Zu Beginn der Nullerjahre, bevor die Agenda 2010 in Kraft trat, waren es die hohen Arbeitslosenzahlen von fünf Millionen und mehr, die aufrüttelten, das etwas passieren muss.“
Linnemann hätte auch sagen können: Für ein umfassendes Reformpaket wie die Agenda von Gerhard Schröder (SPD) geht es Deutschland mit seinen bislang „nur“ drei Millionen Arbeitslosen offenbar noch nicht schlecht genug.