Kein Klimaschutz ohne China

Das Frühstück? Den Kaffee? Das Bier? Lässt man sich liefern. Die Ballpumpe? Die Batterie? Das Shampoo? Genauso. Wer in Chinas Megastädten lebt, erliegt früher oder später dem Komfort der Lieferdienste. Innerhalb von maximal einer Stunde ist fast alles verfügbar. Zum Wocheneinkauf geht fast niemand mehr in den Supermarkt. Aldi und andere liefern vor die Wohnungstür. Die Schuldgefühle, die jede noch so kleine Plastiktüte in Deutschland hervorruft, ist schnell abgestreift. Machen schließlich alle so.

China ist allerdings längst der mit Abstand größte Treibhausgasemittent der Welt (siehe Grafik). Selbst der Beitrag zur bisherigen Erderwärmung Chinas ist nach einer Analyse des Informationsdienstes „Carbon Brief“ inzwischen ähnlich groß wie die der EU-Staaten. Da in Aserbaidschan gerade die Weltklimakonferenz läuft, rücken diese Daten in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Länder verhandeln über ihre Beiträge zur Klimafinanzierung. Wer wie viel zahlen muss, ist eine Gerechtigkeitsfrage.

Dabei lohnt es sich, den Blick auf diese Fragen zu lenken: Liegt der rasante Anstieg der Treibhausgasemissionen je Einwohner am aufholenden Wohlstand des Landes? Oder an der Rolle als Werkbank der Welt? Und: Wie ernst ist es China mit dem Klimaschutz? „Was China international zusagt, hält es auch ein“, sagt Jan Steckel, Professor für Klima und Entwicklungsökonomik BTU Cottbus und Arbeitsgruppenleiter am Berliner Institut MCC. „China hat das größte Emissionshandelssystem der Welt eingeführt, aber ist noch nicht so streng in den Zielen“, sagt Sonja Peterson, Klimaökonomin am Kiel Insti­tute für Weltwirtschaft. Reichen sie, um Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts zu erreichen?

„China will sich als Anführer der Entwicklungsländer präsentieren“

In Baku gab das Reich der Mitte erstmals bekannt, wie viel Geld es in die Klimafinanzierung steckt. Seit 2016 seien es 177 Milliarden Renminbi (23 Milliarden Euro) gewesen, sagte Vize-Ministerpräsident Ding Xuexiang in seiner Rede. „Damit wäre China im weltweiten Länderranking an sechster Stelle“, sagt Belinda Schäpe, China-Analystin beim Centre for Research on Energy and Clean Air, einer Denkfabrik aus Helsinki. „Aber es ist offen, was das eigentlich für Gelder sind.“ Wie so häufig, wenn es um China geht, fehlt die Transparenz.

Weil die Volksrepublik weiterhin als Entwicklungsland gilt, muss sie eigentlich gar nichts beitragen. Sie kämpft mit allen Mitteln darum, dass das so bleibt. Denn die Einstufung bringt Vorteile mit sich. Und dann ist es auch geopolitisch nützlich. „China will sich als Anführer der Entwicklungsländer präsentieren“, sagt Janz Chiang, der sich im Beratungshaus Trivium China in Peking mit Klimapolitik beschäftigt. „Da ist es nützlich, selbst Entwicklungsland zu sein.“

Wirklich angemessen ist diese Einstufung indes kaum noch. Die Chinesen leben länger und nehmen mehr Proteine zu sich als die US-Amerikaner, die Infrastruktur ist weit besser als in vielen westlichen Ländern. Die reichen Städte an der Ostküste sind dem Status von Entwicklungsländern längst entwachsen. Das spiegelt sich in den Statistiken: Auch je Einwohner emittiert das Land inzwischen mehr als die Europäer und fast das Fünffache der Inder (siehe Grafik). Bezogen auf eine einzelne Einheit des Bruttoinlandsprodukts (BIP), ist China deutlich effizienter geworden.

Das Land strebt an, ab dem Jahr 2030 den Höhepunkt der CO₂-Emissionen zu erreichen und ab 2035 einen abnehmenden Trend, sagt Ökonom Steckel. Das große Klimaziel von Präsident Xi Jinping ist die Klimaneutralität im Jahr 2060. Das steigende Emissionsvolumen liege am Wachstum seit den frühen Neunzigerjahren. Kohle war dessen Motor. „Das darunter liegende Narrativ lautete: Kohle ist gut fürs Wachstum. Erste Provinzen wurden so reich und zur Blaupause anderer Regionen“, sagt Ökonom Steckel. Inzwischen steige auch der Anteil von Industrieproduktion und Konsum, der auf erneuerbare Energien zurückgehe.

Das ist der Grund für die Verbesserung der Treibhausgase je BIP-Einheit. Zuletzt hat es nach Steckels Beobachtung zwei gegenläufige Effekte gegeben: Der wachsende Wohlstand brachte eine bessere Ausstattung mit Wasch- und Spülmaschinen und Klimaanlagen mit sich. Gegen die jüngsten Hitzewellen kühlten Chinesen stärker, was viel Strom verbrauchte. Dagegen habe die zum Erliegen kommende Produktion im Bausektor die Folge, dass deutlich weniger Zement und Diesel verbraucht würden. Trotz des Status als Entwicklungsland hat China zum Westen aufgeschlossen. Misst man den Wohlstand nach Kaufkraftparität, können es viele Millionen Chinesen mit Polen und Japanern aufnehmen. „Natürlich ist es verwirrend, China in einen Topf mit Sudan zu werfen“, sagt China-Analystin Schäpe. „Irgendwann muss der Status als Entwicklungsland fallen.“

Doch das brächte auch nach innen Gefahren mit sich. In vielen Provinzen sind die Menschen weiterhin arm. Selbst viele Beamte bekommen dort keine 400 Euro im Monat. Mit der Wirtschaftsschwäche, gegen die die Regierung anzugehen versucht, gerät selbst dieses Wohlstandslevel in Gefahr. Würde China als entwickeltes Land gelten, würden sich Hunderte Millionen Menschen fragen, warum diese Entwicklung bei ihnen noch nicht angekommen ist.

Die Kernfrage für die Zukunft des Klimas ist ohnehin nicht, wie sich China auf dem internationalen Parkett, sondern wie es sich nach innen verhält. Die Logik des autoritären Apparats bringt es mit sich, dass es auf die politische Zielsetzung ankommt. Für Parteikader muss es politisch opportun sein, Emissionen zu reduzieren. „Dass Xi Jinping 2020 die Klimaziele veröffentlicht hat, hat viel in Bewegung gebracht“, sagt Schäpe. „Ich glaube schon, dass Klimapolitik in China Chefsache ist. Die Motivation kommt von der Regierung.“ Inzwischen gibt es konkrete Maßnahmen.

Klimapolitik hat hohen Stellenwert in China

Die beiden großen Erfolgsgeschichten sind der rasante Ausbau von Solar- und Windenergie und der Boom der Elektroautos. In diesen Feldern ist die Volksrepublik dem Rest der Welt enteilt. Es gibt ein Emissionshandelssystem, das neben dem Strom seit Neuestem auch Stahl, Aluminium und Zement beinhaltet. „Die Preise sind aber nicht hoch genug, um einen Unterschied zu machen“, sagt Schäpe. Zudem laufen die Vorbereitungen für ein weitreichendes Klimabilanzsystem, das bis Ende des Jahrzehnts Schritt für Schritt ausgebaut werden soll. Ziel ist ähnlich wie in der EU, dass jedes Produkt, jedes Projekt, jedes Unternehmen, jede Industrie und jede Provinz eine eigene CO₂-Bilanz hat, sagt der Pekinger Analyst Chiang. „China will so die Wirksamkeit seiner Klimapolitik messen.“ Das erinnert an die Bemühungen in Europa, durch eine verbindliche Nachhaltigkeitsberichterstattung Transparenz über die Klimawirkung von Unternehmen zu erreichen.

Doch die Ausrichtung ist anders als in Deutschland. Wie hier sind Energiesicherheit und Klimaneutralität gleichwertige Ziele, aber Erneuerbare genießen nicht absolute Priorität. Als sich vor drei Jahren Stromausfälle häuften, wurden neue Kohlekraftwerke gebaut. Und weil diese Strom günstig halten, kaufen Leute vermehrt Elektroautos. „Klimapolitik hat in China einen hohen Stellenwert“, sagt Schäpe. „Aber sie gehen es sehr pragmatisch an. Wie kann man das umsetzen, ohne allzu hohe Kosten zu haben oder am besten noch Gewinn zu machen?“

Und wie sieht es mit der Rolle als Werkbank aus? Zumindest ist das verschärfte Engagement der EU nicht der Ausgangspunkt des höheren Ausstoßes, betont IfW-Forscherin Peterson. „Der Anstieg der chinesischen Emissionen ist keine Folge der europäischen Klimapolitik. Die großen Sprünge gab es schon Anfang der Jahrtausendwende“, sagt sie. EU und USA müssten sich den chinesischen Ausstoß aber nicht zurechnen lassen, sagt Steckel vom Potsdam Institut. „Dass China so kohlenstoffintensiv produziert, ist nicht die Verantwortung ­anderer Länder, sondern nur Chinas“, betont er. Und Peterson ergänzt: „Die Verlagerung der energieintensiven Produktion ist bisher eher ein Nebeneffekt der Globalisierung, keine Zuflucht für die Verschmutzung.“

Und sieht man sich die Grafik an, beträgt der Anteil der Emissionen durch Außenhandel weniger als ein Zehntel des Gesamtausstoßes. Vom Alltag der Menschen und den Debatten in den Partei- oder Sozialmedien ist all das indes weit weg. Selbst nach schweren Überschwemmungen oder besonders starken Taifunen, was im Westen zuverlässig neue Klimadebatten hervorruft, geht es danach höchstens am Rande um den Klimawandel. Äußert man im Gespräch mit Chinesen ökologische Bedenken, stößt man oft auf Irritation. Manchmal fallen Begriffe wie „westlicher Umweltschützer“, was irgendwo zwischen geopolitischem Schimpfwort und ethnologischem Analysebegriff für die Kuriositäten der westlichen Welt zu verstehen ist.