Karsten Schuberts Buch „Lob welcher Identitätspolitik“
Identitätspolitik hatte zuletzt keine gute Presse. Nach mehreren Büchern, die ihren spalterischen Furor geißelten, mehren sich nun wieder die Stimmen, die ihren guten Kern retten wollen. Karsten Schubert, Philosophiedozent an der Humboldt-Universität, wirbt in seinem offensiv als Apologie ausgewiesenen Buch für eine gereifte, konstruktivistische Identitätspolitik, die identitäre Verhärtungen hinter sich lässt und die Bildung von Gruppenidentitäten nur als strategische Notwendigkeit versteht, um benachteiligten Gruppen Gehör zu verschaffen. Diese Kollektive brauche man, um einen falschen Universalismus zu brechen, der in Wirklichkeit nur die Privilegien der herrschenden Schicht verteidigt. Schubert stellt seinen Ansatz in die Tradition der radikalen Demokratietheorie: Über die dosierte Zufuhr von Identitätspolitik sei eine immer unvollständige Demokratie zu demokratisieren.
Schuberts Kritik gilt einem selbstzufriedenen Liberalkonservatismus, der jeden Veränderungswillen als Auswuchs der Political Correctness zurückweist. Aber auch einem linken Universalismus, der blind für kulturelle Ungleichgewichte ist. Schritt für Schritt geht er die Einwände gegen die bisherige Identitätspolitik durch: vom Vorwurf des Tribalismus über den Verdacht, sie sei nur ein selbstgerechtes Elitenprojekt, bis hin zum Vorhalt, sie wolle die Machtverhältnisse lediglich zum eigenen Vorteil umkehren. Dem Partikularismusvorwurf nimmt er den Wind aus den Segeln, indem er die Identitätspolitik einem Universalismus verschreibt, der über den Abbau von Benachteiligungen erst zu erreichen ist. Damit stellt sich die Frage, wie berechtigte von unberechtigten und maßvolle von maßlosen Gruppeninteressen zu unterscheiden sind.
Bezeichnenderweise vernachlässigt Schubert den Vorwurf, die Vertreter der Identitätspolitik würden selbstherrlich nach eigenen weltanschaulichen Präferenzen über Gut und Böse richten. Bei den Schmähungen und Cancel-Attacken, über die in den Medien berichtet wurde, handelt es sich für ihn nur um ein paar wenige, pausenlos wiederholte Einzelfälle, die sich bei näherer Hinsicht in Luft auflösten. Den Beleg dafür bleibt er schuldig.
Erfreuliche Einschränkung des Meinungsspektrums
An dieser Stelle geht das Buch selbst in den Mythos über. Denn die Cancel-Fälle haben nicht nur eine glasklare Evidenz, sie vermehren sich auch, wie zuletzt die ideologisch motivierten Attacken auf die Antisemitismusforscherin Julia Bernstein und die israelische Verfassungsrichterin Daphne Barak-Erez zeigten. Das kann der Autor freilich nicht wissen, denn er interessiert sich weniger für die soziale Wirklichkeit als für seine Meinungen darüber. Fallrekonstruktionen und argumentative Belege sucht man vergebens.
Von Einzelfällen ist seit dem Erlass des Selbstbestimmungsgesetzes, das in bestimmten Fällen den Gebrauch eines biologisch fundierten Geschlechtsbegriffs strafbewehrt verbietet, ohnehin nicht mehr zu sprechen. Hinter dem Verbot steht zwar eine gute Absicht, trotzdem ist es ein Maulkorb von höchster Instanz. Für den Autor dürfte es dagegen eine erfreuliche Einschränkung des Meinungsspektrums sein. Für ihn steht fest, dass Feministinnen, Biologen, Mediziner oder Otto Normalverbraucher, die an der Fiktion des zugewiesenen Geschlechts zweifeln, die falschen Interessen haben und tendenziell unwissenschaftlich argumentieren.
Das soll dann wohl auch für die mehr als ein Dutzend Medizinprofessoren gelten, die diesen Zweifel jüngst in einem hundertseitigen Dossier wissenschaftlich begründet haben. Man darf darauf schließen, dass solchen Leuten nach der Meinung des Autors recht geschieht, wenn sie von Tagungen ausgeladen, von ihrer Hochschule vertrieben oder als Hexen verunglimpft werden. Denn all dies fällt für ihn unter die Rubrik Einbildung.
Die Blindheit setzt sich fort, wenn der Autor unter anderem dem Transgenderaktivismus im Unterschied zu seinen Kritikern ein hohes Maß an Reflektiertheit bescheinigt. Man wundert sich: Gingen von dort nicht mitunter die schärfsten Cancel-Attacken aus, auf Marie-Luise Vollbrecht, Alessandra Asteriti, Bernd Ahrbeck, Javier Álvarez-Vázquez, Kathleen Stock und andere? Man muss nur einmal die drei Worte „Kill a TERF“ in die Suchmaschine eingeben, um sich vom Reflexionsniveau mancher Aktivisten zu überzeugen.
Am Ende besitzt der Autor für die neue reflexive Phase der Identitätspolitik selbst nicht die Reife. Er bleibt dem alten Stil des Befindens und Aburteilens treu. Die Richtschnur zwischen legitimen und illegitimen Identitätsansprüchen sind eigene, nicht weiter begründete Vorlieben. Das Verdienst des Buches ist damit letztlich ein unfreiwilliges: Es zeigt den klirrenden Machtanspruch, die Selbstgerechtigkeit und Borniertheit, die hinter einer hohen Moral verborgen sein können.
Karsten Schubert: „Lob der Identitätspolitik“. C.H. Beck Verlag, München 2024. 223 S., br., 20,– €.
Source: faz.net