„Karma“ von Alexander Schimmelbusch: Deutschland via @lles

Dieser Roman ist eine schlimme und großartige Zumutung. Er ist ein reizvolles Gedankenexperiment und stilistisch eine Herausforderung, ein großes Gedankengebäude über unsere nahe Zukunft, mit dem man literarisch ziemlich hadert. Alexander Schimmelbuschs Karma spielt im Herbst 2033, also in neun Jahren, und man darf darin herausfinden, wie sich bis dahin Lebensgewohnheiten und Normen im Zeichen der künstlichen Intelligenz verändert und zugespitzt haben, wie sich gesellschaftliche Widersprüche zur vollen Blüte entfalten. Und wie in so vielen Romanen, die sich der digitalen Revolution annehmen, ist auch hier die Gesellschaft erfüllt von einem utopischen Überschwang, hinter dem sich nur notdürftig das Grauen, die Diktatur, die Dystopie verbergen.

Es fängt so idyllisch an. An einem brandenburgischen See in der Nähe von Berlin veranstaltet die Omen SE, Deutschlands wertvollstes Unternehmen, ein abendliches Fest. Das Land hat die Rückständigkeit im Digitalen mittlerweile vollständig überwunden. Man ist wieder wer. Omen ist ein patriotisches Vorzeigeunternehmen mit einer Vielzahl an KI-Plattformen für alle erdenklichen Lebensbereiche. Die CEO hält eine aus heutiger Sicht absolut unwahrscheinliche Rede, in der sie vor allem die Deutschen an sich rühmt, die „lieber in unseren verbliebenen Mooren versinken, als weiterhin faule Kompromisse einzugehen“. Ein hoher nationalistischer Ton wird hier angeschlagen, hochtrabend die literarischen Referenzen: „Wir sind der Wal“, heißt es mit Verweis auf Herman Melville, „Projektile unseres warmen Blutes, von einem dumpfen Gefühl des Mangels vorangetrieben, bis am Horizont unser schwarzer Stern erscheint, bis die dunklen Farben ineinander bleichen und wir von der Schwerkraft in die Tiefe gerissen werden.“

Das ist bleierner Metaphernblödsinn, das ahnen manche Mitarbeiter auch und schielen verstohlen auf die aufgereihten Weißweinflaschen, die nach der nicht enden wollenden Rede entleert werden dürfen. Am See sind mit allem erdenklichen Komfort ausgestattete Bungalows für ausscheidende Spitzenkräfte mittleren Alters entstanden. Die hyperregulierten Smarthouses werden an dem Abend eingeweiht, und wir lernen die mit fürstlicher Großzügigkeit in den Vorruhestand überführten Mitarbeiter etwas genauer kennen: den 48-jährigen, legendären Chef der Entwicklungsabteilung Joachim, der seiner CEO auch sexuell zur Verfügung steht. Daniel, den von allen verachteten stellvertretenden Leiter der internen Ablaufoptimierung mit seinen kleinbürgerlichen Sehnsüchten. Frauke und Nilufar, ein lesbisches Paar, das Veritas gegründet hat – ein Tochterunternehmen für den Vertrieb von feinen Weinen mit dem „Anspruch, die Identität einer jeden Userin über alle Plattformen hinweg ganzheitlich zu erfassen“. Überhaupt wird hier verdammt viel gesoffen, aber immer mit Selbstveredelungsabsichten. Auch Christiane, die eine Datingplattform namens Intelligenzija erfunden hat, gibt sich an den Nachmittagen heillos einem „Chardonnay von der Woglindenaue“ hin, der wie „Muschelschale, Wildlederslipper, gebackener Pfirsich“ schmeckt, und verstrickt sich ansonsten in ungute Diskussionen mit ihrer virtuellen KI-Psychotherapeutin Diana über ihren strukturlosen Lebensstil.

Die Protagonisten eint eine mehr oder weniger stark ausgeprägte depressive Grundstimmung. Mit einiger Restenergie wird sich sexuell stimuliert. Ansonsten lebt man im uneigentlichen Modus des kuratierten Wohlbefindens, vegetiert im Wellness-Unsinn der besseren Schichten vor sich hin, ist umstellt von digitalen Coaches und dem Ethos der alten Bundesrepublik: „Als Mutterfelsen der deutschen Volksseele ragten nicht die germanischen Sagen aus den Fluten des Nebelmeeres, sondern die zentralen Motive unseres Grundgesetzes (…). Nicht die Gebeine der römischen Legionen waren die Treiber der deutschen Gruppendynamik, sondern das Sozialstaatsprinzip.“

So weit die Norm. In der Realität aber – und das ist die Moral dieser Geschichte – leben faschistische Strukturmuster fort. Die amourösen Verstrickungen der altgedienten Protagonisten folgen sozialdarwinistischen Prinzipien, der so berühmte Joachim hat schlicht das bessere Genmaterial für das weibliche Personal, sein Guru-Samen ist heiß begehrt. Daniel hingegen wird gedemütigt und nach dem Sexualgebrauch fallen gelassen wie in früheren Epochen die verfolgte weibliche Unschuld. Selektion ist das neu-alte Prinzip der Gesellschaft – mit der etwas fies-revanchistischen Pointe, dass sie jetzt vor allem von Frauen betrieben wird, den neuen Führern des Volkskörpers. Schimmelbusch stellt uns eine postpatriarchale Gesellschaft vor, und damit den Wiederaufguss des Faschismus unter feministischen Vorzeichen. Und mit einem Mal, nach wenigen Tagen in den neuen Häusern, weht ein eiskalter Wind durch Brandenburg, ein überraschender, unwirklicher Einbruch des Winters, wie eine späte Rache des fossil-männlichen Zeitalters, das noch letzte Kraft zur Apokalypse hat – überhaupt hält der Roman auf den allerletzten Seiten sehr unvermittelt mörderische Pointen bereit, die erhellend sind, aber hier nicht verraten werden sollen.