Kämpfende Frauen | Die Revolution im Iran ist weiblich: Der Tanz der Jasmine
Seit Jahrhunderten ist das Phänomen bekannt – das Geheimnis dahinter bis heute ungelöst: Frauen, die plötzlich anfangen zu tanzen. Das taten sie in Ägypten, Spanien, der Türkei. Nun tanzen sie in Teheran: für die Würde und das Leben
„Tanzwut“ nennen sie das. Oder „Tanzepidemie“. Zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert ereignet sich in europäischen Städten ein merkwürdiges Phänomen, dessen Geheimnis bis heute ungelöst ist. In Dörfern, Städten und Gemeinden fangen die Menschen plötzlich an zu tanzen. Der Tanz breitet sich aus, und niemand kann ihn aufhalten. Menschen, die tagelang und nächtelang tanzten, brechen schließlich vor Erschöpfung zusammen und sterben. Warum es passiert, wie es anfängt, darüber gibt es keine genauen Informationen.
So begann 1518 eine Frau in Straßburg zu tanzen, etwa 500 Menschen schlossen sich ihr an, und sie tanzten tagelang. Im Jahr 1536 begann eine Gruppe von Kindern zu tanzen und konnte nicht mehr aufhören. Es wird sogar vermutet, dass das Märchen vom Rattenfänger durch diese Tanzepidemie inspiriert wurde. Es gibt verschiedene Erklärungen für diesen Wahnsinn, der in den heutigen Niederlanden, Deutschland und Frankreich in Abständen von drei Jahrhunderten stattfand. Einige der damaligen Erklärungen lauteten, dass diese Menschen einen Pilz gegessen hatten, der Wahnsinn verursachte, andere, dass sie von einer seltenen Spinne gebissen worden waren. Aber eine ganze Stadt, alle zusammen? Einigen zeitgenössischen Gelehrten zufolge wurde der Ausbruch dadurch verursacht, dass die Menschen regelrecht verrückt wurden und sich gegen den extremen religiösen Druck und die harten Lebensbedingungen im Mittelalter auflehnten. Heute, zehn Jahrhunderte später, ist dies wahrscheinlich die überzeugendste Erklärung, nicht wahr?
Wir erleben gerade die Tanzepidemie unserer Zeit. Wenn diejenigen, die nach uns kommen, die Ursache finden wollen, werden sie sagen: „Es gab keine andere Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu fordern.“ Und wenn die Dinge gut laufen, werden sie diese Tanzpandemie vielleicht folgendermaßen erklären: „Die Frauen begannen einen Tanz in Richtung Freiheit, und die Welt folgte ihnen.“
Denn sie tanzen, die Frauen von Teheran. Sie lassen ihr Haar herunter, werfen ihre Kopftücher ins Feuer und tanzen um die Flammen. Die 22-jährige kurdische Iranerin Mahsa Amini wurde inhaftiert und zu Tode gefoltert, weil sie ihr Haar nicht so bedeckt hatte, wie es das Regime wünscht. Obwohl die iranische Polizei Erklärungen abgab, die auch Menschen aus der Türkei sehr vertraut klingen, wie etwa: „Sie hatte ein Herzproblem, sie starb plötzlich“, hören die Frauen nicht auf sie. In den ersten Tagen dachte der Rest der Welt, dass es sich bei diesem Tanz um einen Protest handelte, der so abrupt enden würde, wie er begonnen hatte. Aber der Tanz verbreitete sich in allen Städten Irans.
Der Arabische Frühling scheint eine Ewigkeit her zu sein, dabei sind es erst zehn Jahre. Auch hier schrien, sangen und tanzten die Frauen auf dem Kairoer Tahrir-Platz 2011. Im Jemen führte eine Frau die Massen an, indem sie das Revolutionslied Nehna el Thawra sang. Die Frauen erhoben sich auf den Plätzen von Spanien, von Griechenland. Dann die Türkei 2013, Gezi: ein wochenlanger Tanz im Istanbuler Park. Die Massen wiederholten immer wieder eine einzige Forderung in ihrer eigenen Sprache: Die Würde des Menschen! Die meisten Aufstände wurden mit aller Härte niedergeschlagen. In Ägypten wurde die Revolution gestohlen, in der Türkei wurden Kinder getötet, Tunesien versucht immer noch, wieder auf die Beine zu kommen. All diese Aufstände haben sich mit dem Bild einer Frau in unser Gedächtnis eingeprägt: die Ägypterin, deren blauer BH zu sehen war, als sie über den Boden geschleift wurde; die junge Frau, die auf das Dach der Universität in Tunesien kletterte und die Fahne der radikalen Islamisten herunterholte … So haben die Frauen gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Bild ihres eigenen Gesichts auf die große Leinwand der Zeit gekratzt. „Dies wird ein weibliches Zeitalter sein“, sagten sie.
Es vergingen Jahre, in denen die Frauen wussten, dass sie in Afghanistan sterben würden. Sie verkleideten sich und gingen auf die Straße, mitten in einem Horrorfilm, der von den größten Mächten der Welt verlassen wurde. Sie wurden besiegt, bevor sie Zeit zum Tanzen hatten.
Aber eine andere Frau verpasste den Polizisten, die den Tanz der Revolte während der Aufstände 2019 in Beirut unterbrachen, einen Tritt. Das war noch nicht alles. In den USA tanzten Frauen 2017 mit über Nacht gestrickten rosa Mützen auf den Straßen und warnten ihr Land vor dem Faschismus. So breitete sich die Epidemie aus, beruhigte sich, und gerade als wir dachten, es sei vorbei, gingen die Frauen in Südamerika auf die Straßen. In Santiago protestierten die Frauen 2019 gegen die Straffreiheit von Vergewaltigungen mit einem Tanz, der von einem selbst geschriebenen Lied begleitet wurde und sich im ganzen Land verbreitete. Der Tanz endete, doch er führte bis heute zu einem tiefgreifenden Wandel.
In der Türkei scheint der Tanz nie zu enden. In der Nacht des 8. März tanzten die wunderbaren Frauen Istanbuls heldenhaft gegen die Polizeigewalt, um zu zeigen, dass sie niemals ihre tiefe Lebensfreude verlieren werden. Es hört auf und fängt wieder an. Sie glauben, es sei vorbei, und schon kommt eine junge Frau heraus und ruft: „Ihr könnt uns nicht einschüchtern!“ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so werden es die Generationen nach uns beschreiben, gab es immer eine Frau, die tanzte und den verrückten Lauf der Welt herausforderte.
Die iranischen Frauen, die seit der Islamischen Revolution auf jede erdenkliche Weise versucht haben, Widerstand zu leisten, haben sich nun mit einem Tanz erhoben. Dieser Tanz wird nicht so einfach enden. In der Türkei steht die Musikerin Melek Mosso auf der Bühne, auf der ganzen Welt stehen unzählige Frauen vor ihren Handykameras, schneiden sich in Solidarität mit ihren Schwestern die Haare und werfen sie in das Feuer, das in Iran brennt.
Rebellion der Sanftheit
In der russischen Stadt Jakutsk bildeten Hunderte Frauen einen Kreis um die Polizei und begannen den traditionellen Osuokhai-Tanz. Sie protestierten gegen Wladimir Putin, einen der rücksichtslosesten Tyrannen der Welt, der die Söhne in einen Krieg der Bosheit schickt. Und als die Frauen aufstanden, war es an der Zeit, diesem Tanz einen Namen zu geben: der Tanz der Rebellion gegen Tyrannei.
Wie schon so oft in der Geschichte der Menschheit werden wir uns auch dieses Mal nicht von den Männern nach Hause schicken lassen, die sagen: „Die Revolution ist vorbei.“ Wir werden nicht nach all den Revolutionen, die wir angeführt haben – Russische, Französische oder welche auch immer –, die Verwaltung den Männern überlassen, die sagen: „Wir übernehmen das.“ Die neuen Frauen sind sehr zäh, sie werden nicht die Lügen essen, die wir gegessen haben. Denn jetzt wissen sie es ganz genau: Wo es eine männlich dominierte Ideologie gibt, wo es Unterdrückung gibt, keimt ein Vorläufer des Faschismus.
Diese beiden Psychopathen der Geschichte sind untrennbar miteinander verbunden. Denn der Faschismus – ob in der islamischen Welt oder im Christentum – beruht auf der Angst vor dem Weiblichen. Der Faschismus richtet sich gegen die Frauen, gegen die weibliche Sanftheit im Mann, gegen die Natur, den Tanz, das Lachen … Der Faschismus führt einen verzweifelten Krieg gegen den fruchtbaren und freudigen Teil der menschlichen Natur.
Deshalb sind die Frauen angesichts der Gefahr des Faschismus wie Kanarienvögel in den Minen: Sie merken als Erste, dass der Sauerstoff knapp wird, und sie beginnen zu flattern, ihren Tanz zu tanzen, der die Gefahr des Zusammenbruchs ankündigt. Und wissen Sie, sobald Frauen aufstehen, um zu flattern, entscheiden sie, wann sie sich wieder hinsetzen. Sie entscheiden, wann der Tanz endet. Sie hörten die amerikanische Revolutionärin Emma Goldman zu Beginn des 20. Jahrhunderts sagen: „Wenn ich nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution!“
Dies ist nicht nur ein poetischer Wunsch. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind die Frauen so mächtig wie jetzt. Zum ersten Mal sind sie so gebildet, zum ersten Mal haben sie so viel politische Erfahrung, und vor allem machen sie sich zum ersten Mal nicht mehr so viele Gedanken darüber, dass sie von Männern nicht geliebt werden. Sie sehen, dass die Welt zerstört wird, dass Kinder sterben, dass die Ordnung unmenschlich ist, und sie sagen der ganzen Welt: „Kommt zur Vernunft!“
Durch die Erde an die Luft
Die von Männern erbaute und dominierte Ordnung reagiert auf diese Gefahr, und deshalb wächst überall auf der Welt das Interesse an der Gebärmutter, selbst in den fortschrittlichsten und gebildetsten Gesellschaften. Zum ersten Mal wird in der westlichen Welt so viel über Vergewaltigungen, patriarchale Gewalt und Femizide gesprochen. Es ist ein ungeordneter, aber gezielter Krieg, der nicht nur uns Frauen, sondern uns alle unter seinen Trümmern begraben wird, wenn wir nicht aufstehen und tanzen.
Wenn mir heute jemand sagt, dass der Tanz in Russland unterdrückt werden wird, dass der Aufstand in Iran zu nichts führen wird, dass die Proteste auf dem Tahrir oder im Gezi-Park nichts verändert haben, denke ich an Jasmin. In Tunesien erzählten mir alte Frauen, wie sie den Jasmin vermehrten. Die tunesischen Aufstände im Jahre 2011, die im Westen als „Jasminrevolution“ bezeichnet wurden, hatten sich beruhigt, die Wahlen waren gerade zu Ende gegangen und die Männer drängten vor, um zu übernehmen. Ich tat, was meine Nachbarinnen mir sagten: Ich nahm einen Jasminzweig, steckte ihn unter die Erde und zog die Spitze an der Stelle heraus, an der ein neuer Jasminstrauch heranwachsen sollte.
Revolutionäre Umwälzungen sind wie diese Jasminblüten: Sie kriechen unter die Erde, um an einem neuen Ort wieder aufzutauchen, erst unsichtbar für das Auge, doch schon im nächsten Moment ist ein neuer Jasmin entstanden. Vom Tahrir nach Beirut, ein Jasminzweig … Von Chile nach Teheran, ein neuer Jasminzweig … Und dann schießt der Jasmin hervor und bedeckt die Welt.
Frauen werden immer aus dem Boden schießen. Dies ist der Tanz der Jasmine.
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