Juso-Chef Philipp Türmer und JuLi-Chefin Franziska Brandmann im Streitgespräch
Frau Brandmann, der Bundeskanzler findet es inzwischen mühselig, mit der Ampel zu regieren. War es ein Fehler, überhaupt diese Koalition zu bilden?
Brandmann: Ich denke nicht, dass die Koalitionsbildung damals ein Fehler war. Nach der Bundestagswahl war die Union schlicht absolut nicht regierungsfähig. Nach Jahren der Status-quo-Verwaltung hat der Ausblick auf eine Fortschrittkoalition, die den Reformstau endlich anpackt, auch Aufbruchshoffnung versprüht.
Aber die hat sich nicht so recht erfüllt.
Brandmann: Es wurde einiges auf den Weg gebracht. Aber durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die entstandene Energiekrise und die Inflation ist eine Situation entstanden, in der es gerade auf die Bereiche ankommt, in denen diese Regierung sich nicht einig ist: Wirtschaft, Energie, Haushalt. Da knirscht es oft, das ist einfach nur nervig.
Türmer: Das tut er mitnichten.
Brandmann: Dann lies ihn gerne noch mal. Im Übrigen ist die Schuldenbremse auch im Grundgesetz geregelt. Ich finde es respektlos dem Bundesverfassungsgericht gegenüber, nach seinem Urteil zu sagen: Na gut, dann müssen wir halt Wege finden, dieses Urteil zu umgehen.
Es steht die These im Raum, dass die Schuldenbremse Modernisierung behindert. Teilen Sie die vielleicht trotzdem?
Brandmann: Nein, aber die Schuldenbremse zwingt zur Priorisierung. Die Bürger zahlen schon heute enorm viel Geld in den Haushalt ein. Ich erwarte von der Politik, mit diesem Geld sinnvoll zu haushalten. Schauen wir mal in Richtung Schweiz, in der es auch eine Schuldenbremse gibt und gleichzeitig pro Kopf dreimal mehr in Schiene und Infrastruktur investiert wird als bei uns in Deutschland.
Haben Sie Einsparvorschläge?
Brandmann: Nur ein Beispiel: Ich finde, dass es zu viele Bundesministerien und zu viel Personalaufwuchs in den Ministerien gibt. Man könnte etwa das Bauministerium abschaffen, das aktuell sowieso nur Bürokratie produziert. Und wir müssen auch an den Bereich Soziales ran, damit mehr Spielraum für Investitionen bleibt. Nehmen wir die sogenannte abschlagsfreie Rente mit 63: Die kostet 3 Milliarden Euro pro Monat und ist arbeitsmarktpolitisch auch noch kontraproduktiv.
Herr Türmer, kann es sein, dass Sie am Ende mit höheren Schulden eher höhere Sozialausgaben finanzieren wollen?
Türmer: Das weise ich zurück. Zur Fortentwicklung des Sozialstaats haben wir eigene Konzepte. Und wenn Sie es eine „These“ nennen, dass mehr Investitionen durch mehr Kredite gelingen, dann will ich das zurechtrücken: Das ist keine These, sondern eine gesicherte Erkenntnis. Die Mehrheit der Ökonomen sieht das so. Viele Länder und jeder mittelständische Betrieb, der wachsen will, machen uns das vor. Nur wir in Deutschland versagen vor der Herausforderung, in unsere Zukunft als Industrieland zu investieren. Die größte Bedrohung für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist derzeit die Politik der FDP.
Brandmann: Ich habe selbst ein Unternehmen gegründet und spreche regelmäßig mit Unternehmern. Bisher habe ich da kein einziges Mal gehört: Mit der Abschaffung der Schuldenbremse wären meine Probleme gelöst. Dafür höre ich häufig SPD-Politiker, die fast alles als Investition einstufen, um mehr Schulden zu rechtfertigen. Da wird dann sogar das Bürgergeld zu einer Investition.
Türmer: Ich tue das nicht. Aber ich finde es fast schon müßig, über die Schuldenbremse zu diskutieren. Bis auf die FDP haben es ja inzwischen fast alle kapiert. Dafür gibt es noch einen anderen Punkt, in dem ich mir mehr Fortschritt wünsche: Arbeit wird in Deutschland zu stark besteuert, gerade Beschäftigte mit mittleren Einkommen bis etwa 66.000 Euro zahlen viel zu hohe Steuern.
Türmer: Was der Finanzminister macht, ist vor allem Klientelpolitik. Davon profitieren immer die Superreichen am stärksten. Uns geht es um die Breite der arbeitenden Bevölkerung. Der würde ich sogar sagen: Wir als Jusos sind die Jugendorganisation, die am stärksten für Steuersenkungen kämpft. Wir wollen echte Entlastungen für normale Einkommen. Aber da muss man sich eben auch ehrlich machen und es solide finanzieren. In Deutschland werden Milliardäre, die ihre Einkommen aus Kapitalerträgen erzielen, im Schnitt mit 26 Prozent besteuert. In der Schweiz sind es 47,5 Prozent Höchststeuersatz. Wir müssen aufhören, ein Niedrigsteuerland für Milliardäre zu sein. Das Problem ist, dass mit der Lobbypolitik der FDP leider auch in dieser Hinsicht nichts zu erreichen ist.
Sie streben mehr Investitionen an. Auch private Investitionen? Und passen dazu höhere Steuern für Unternehmer?
Türmer: Private Investitionen spielen eine herausragende Rolle. Und die wirtschaftswissenschaftliche Forschung sagt eindeutig: Der Faktor, der Private am stärksten motiviert zu investieren, sind staatliche Investitionen, die ein gutes Investitionsklima schaffen. Zum Beispiel staatliche Investitionen in Energieinfrastruktur und gute Verkehrswege. Genau dieses Klima kreieren wir in Deutschland nicht genügend.
Herr Türmer, wenn wir es richtig verstehen, sehen die Jusos die Macht großer Konzerne grundsätzlich kritisch. Wie stehen Sie zu den 10 Milliarden Euro für Intel?
Türmer: Wir wollen ein gutes Investitionsklima für Unternehmen und eine starke Wirtschaft mit guten Arbeitsplätzen. Dazu gehört auch, strategisch wichtige Schlüsselindustrien gezielt anzusiedeln. Die Halbleiterindustrie ist entscheidend als industrielles Rückgrat für moderne Industrienationen und sichert unsere Lieferketten ab. Das stärkt Arbeitsplätze in Deutschland und reduziert Abhängigkeiten von China und Taiwan.
Brandmann: Daran sieht man, wie stark sich unser Politikverständnis unterscheidet. Du sagst, Politiker müssen Industriezweige und Unternehmen ansiedeln. Ich finde, Politik ist dafür da, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Den Rest regelt der Markt. In der Nähe des geplanten Intel-Standorts gibt es übrigens andere Unternehmen mit ähnlichen Produkten. Die fragen jetzt: Wo sind bitte unsere 10 Milliarden? Die Jusos sind einerseits gegen Großkapital und Großunternehmen. Aber wenn es darum geht, Steuerzahlergeld für sie auszugeben, dann finden sie das plötzlich super.
Herr Türmer, Sie wollen eine Erbschaftsteuer von 90 Prozent für Multimillionäre. Viele Großvermögen stecken in Familienunternehmen. Sollen die zerschlagen werden oder Mitarbeiter entlassen werden, wenn der Inhaber stirbt?
Türmer: Aktuell werden Großvermögen in Deutschland viel niedriger besteuert als in anderen Ländern. Wir wollen Erbschaften unter einer Million gar nicht besteuern und danach eine progressiv steigende Stufensteuer. Unsere Antwort zum Thema Betriebsvermögen: Man kann die Steuerzahlungen gerne über einen Zeitraum von 20 Jahren stunden. Das sollte ausreichen. Typischerweise erwirtschaften Unternehmen ungefähr alle zwölf Jahre mit ihren Gewinnen den eigenen Wert.
Brandmann: Man sieht daran, dass Philipp sehr viel Sinn dafür hat, wo sich der Staat vermeintlich noch mehr Geld holen kann: bei allen Bürgern, mit jeder Steuer. Ich halte diesen Ansatz für völlig falsch. Wenn Unternehmen dadurch Geld zum Investieren fehlt und sie Arbeitsplätze nicht halten können, ergibt das keinen Sinn.
Normalverdiener zahlen neben Steuern vor allem Sozialbeiträge. Die Ampel plant den Demographiefaktor in der Rentenformel auszuschalten, damit die Renten stärker steigen. Die Jüngeren werden das über höhere Beiträge bezahlen. Wie groß ist ihr Frust darüber?
Türmer: Die durchschnittliche Rente beträgt im Moment 1543 Euro, die Armutsgrenze verläuft nur knapp darunter bei 1189 Euro. Es kann also niemand davon sprechen, dass Rentner auf Kosten der Allgemeinheit in Saus und Braus leben würden. Und wenn wir heute dafür sorgen, dass unsere Großeltern noch in Würde im Alter leben können, sichert auch uns das perspektivisch gegen ein Leben in Altersarmut ab. Trotzdem müssen wir die Sozialversicherungsbeiträge begrenzen.
Türmer: Es müssen alle Einkommensarten einbezogen werden. Auch Beamte, Abgeordnete und Selbständige sollen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Und die Beiträge müssen zudem gerechter zwischen hohen und niedrigen Einkommen verteilt werden. Bundestagsabgeordnete bekämen dann zum Beispiel weniger heraus, Beschäftigte mit kleinem Einkommen dafür mehr. Und wir können nicht akzeptieren, dass bisher Kapitaleinkommen nicht zur Rente beitragen. Deshalb werben wir für eine Wertschöpfungsabgabe, um auch diese zur Finanzierung der Sozialsysteme heranzuziehen.
Brandmann: Die Steuern, Abgaben und Energiekosten sind hier schon jetzt viel zu hoch. Wenn du in dieser Situation darüber sprichst, wie man Unternehmen zusätzlich finanziell heranziehen könnte, kriege ich Schweißperlen auf der Stirn. Der demographische Wandel ist eines der wichtigsten Themen überhaupt. Es fließen schon jetzt jedes Jahr 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt in die Rente. Das System muss reformiert werden. Es wird nicht ausreichen, Beamte und Selbständige mit einzubeziehen, die hätten ja auch entsprechende Rentenansprüche. Deshalb bin ich froh, dass die FDP die einzige Partei ist, die mit der Aktienrente einen echten Vorstoß vorlegt. Allerdings führt das Rentenpaket II in seiner aktuellen Form zur größten Beitragssteigerung aller Zeiten.
Sollte die FDP-Fraktion im Bundestag gegen dieses Rentenpaket stimmen?
Brandmann: Das Rentenpaket II darf in dieser Form definitiv nicht kommen, weil kommende Generationen sonst über die Maßen belastet werden. Die Gesamtbalance des Pakets muss geändert werden, sei es, indem wir die Aktienrente um ein Vielfaches vergrößern oder aus der Rente mit 63 aussteigen. Man kann es nur nicht so machen wie Hubertus Heil, der sagt, er vertraue darauf, dass schon alles nicht so schlimm kommt, wie Ökonomen voraussagen.
Türmer: Die Rente mit 63 gibt es ja gar nicht mehr. Die Grenze liegt heute bei 64 Jahren und vier Monaten. Ich finde es richtig, dass Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, abschlagsfrei in Rente gehen dürfen. Zudem hat die Flexirente Anreize geschaffen, länger zu arbeiten. Ich glaube, uns trennt ein Grundsatzkonflikt: Wir wollen alle in die Verantwortung für die Rente nehmen. Ihr in der FDP wollt das System privatisieren, damit die Leute auf eigene Kosten vorsorgen. Niemand sollte glauben, dass ihnen das mehr verfügbares Einkommen bringt. Der Vorteil der gesetzlichen Rente: Der Arbeitgeber zahlt die Hälfte, und der ETF-Sparplan bestimmt nicht darüber, wie lange man es sich leisten kann zu leben.
Brandmann: Eure Vorschläge stabilisieren die gesetzliche Rentenversicherung nicht. Drängt man mehr Zahler in dieses kaputte System hinein, müssen ihre Ansprüche später auch ausgezahlt werden. Ich finde es witzig, dass du dich bei der Schuldenbremse auf bestimmte Ökonomen berufst, aber die ganz klaren Warnungen aller führenden Ökonomen bei der Rente einfach ignorierst.
Sie haben beide noch nicht über das Thema Klima gesprochen. Ist das Thema bei den Jüngeren auf dem absteigenden Ast?
Türmer: Das Klimathema ist für weite Teile unserer Generation extrem wichtig, muss es auch sein! Ich will, dass wir den Klimaschutz mutig angehen. Vor allem müssen wir eine Verkehrswende hinbekommen. Deshalb kämpfe ich ja so für Investitionen, für den Ausbau der Schiene und des öffentlichen Nahverkehrs – nicht wie die FDP für autofreundliche Innenstädte.
Brandmann: Der Klimawandel bleibt ein großes Thema. Wir müssen ihm mit den Mitteln der Marktwirtschaft begegnen. Dafür haben wir den Zertifikatehandel, da sollten wir den Verkehrssektor miteinbeziehen. Das stellt am besten sicher, dass die Menschen mobil bleiben und weiter die Wahl haben, während es sich gleichzeitig für sie lohnt, klimafreundliche Verkehrsmittel zu wählen. Ich selbst wohne in Münster, da fährt man vor allem Fahrrad. Von Vorschlägen wie Flatrate-Parken halte ich gar nichts.
Das scheint uns der erste Punkt, in dem Sie sich wirklich einig sind.
Türmer: Ja, und ich finde es schön, dass sich die Julis auch mal eine andere Meinung gönnen als die Gremien der FDP.
Trotz aller Probleme: Warum sollten 20-Jährige daran glauben, dass es Deutschland in zehn Jahren besser gehen wird als heute?
Brandmann: Wir sind eines der weltweit führenden Länder bei der Gründung von Unternehmen, die Künstliche Intelligenz nutzen. Die junge Generation hat so viele Ideen und will die Zukunft gestalten. Aber sie will bei politischen Entscheidungen auch fair berücksichtigt werden. Dafür setzen wir uns als Julis ein.
Türmer: Wir sind unserem Schicksal nicht ausgeliefert: Habe ich später einen guten Job, der fair bezahlt wird, und eine günstige Wohnung? All diese gesellschaftlichen Fragen können wir in einer Demokratie selbst in die Hand nehmen! Umso mehr, wenn wir mutige Politik machen und uns von der selbst angelegten Fessel der Schuldenbremse befreien.
Eine sozial-liberale Koalition sehen wir da aber nicht in Reichweite.
Brandmann: Jedenfalls nicht mit Philipp Türmer (beide lachen).
Junge Politikergeneration
Franziska Brandmann ist seit 2021 Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen (Julis). Sie ist 30 Jahre alt, wuchs in Grevenbroich auf und hat einen Master in Europäischer Politik an der Universität Oxford absolviert und ein Start-up im Bereich Legal-Tech gegründet. Heute lebt sie in Münster. Brandmann bezeichnet ihren Umgang mit der Ampelregierung als „konstruktiv“. Als die FDP ihre Mitglieder zum Fortbestand der Koalition befragte, warb die Vorsitzende der Nachwuchsorganisation für die Fortsetzung. Bundesweit Schlagzeilen machte Brandmann, als sie sich gemeinsam mit FDP-Sozialpolitiker Johannes Vogel gegen das Rentenpaket II in jetziger Form stellte. Stattdessen macht sie sich für eine „echte Aktienrente“ stark.
Philipp Türmer ist seit 2023 Bundesvorsitzender der Jungsozialisten der SPD, kurz Jusos. Er ist 28 Jahre alt und wurde in Offenbach geboren. Neben seinem Amt arbeitet er nach seinem ersten juristischen Staatsexamen an seiner Doktorarbeit an der Goethe-Universität Frankfurt. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Tafel Offenbach. Türmer interpretiert seinen Posten offensiver als Brandmann. Auf offener Bühne attackiert er SPD-Kanzler Scholz und die Ampelpartner in Berlin. Mit der Strategie „Attacke“ tritt er in die Fußstapfen von Juso-Vorsitzenden wie Andrea Nahles und Kevin Kühnert, die auch in der Mutterpartei Karriere gemacht haben. Türmer gewinnt durch Präsenz in TV-Talkshows bundesweit an Bekanntheit. jpen.