Jungfrauentests: Unsere Furcht vor welcher Hochzeitsnacht

Die
„10 nach 8“-Redaktion veröffentlicht an dieser Stelle in
unregelmäßigen Abständen Beiträge von Frauen, die in Afghanistan in großer
Gefahr leben oder in Drittländer geflohen sind. Wir wollen zeigen, wie sich die
Machtergreifung der Taliban auf einzelne Menschen auswirkt. Die „10 nach 8“-Redaktion
kennt die Autorinnen aus persönlichen Kontakten und Arbeitsbeziehungen ihrer
Netzwerke. Die Beiträge entstehen teils unter äußerst schwierigen Bedingungen,
manche können zum Schutz der Autorinnen nur unter Wahrung ihrer Anonymität
publiziert werden. Daher erscheinen einige dieser Texte auch – anders als
üblich bei „10 nach 8“ – weder mit einem Foto noch einer Kurzvita der
Verfasserinnen. Diese Beiträge zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der
Einzelschicksale, von denen derzeit diejenigen in Deutschland Kenntnis
erhalten, die mit Afghaninnen zusammenarbeiten. In Afghanistan, das zeigt dieser Text, existiert anders als hierzulande weiter der Mythos des Jungfernhäutchens als Symbol der Reinheit der Frau – er ist ein Mittel patriarchaler Kontrolle.

Unsere Mütter haben andere Mädchen und mich von klein auf ermahnt, vorsichtig zu
sein, wenn wir spielen, rennen, Fahrradfahren oder auf Bäume klettern. Damals
habe ich nicht verstanden, warum die älteren Frauen uns Mädchen ständig ermahnten, aber die Jungs
nicht. Inzwischen weiß ich, dass diese Reglementierungen und Beschränkungen auf
die Wahrung unserer „Jungfräulichkeit“ und damit der Familienehre abzielten.

Als
Jugendliche erfuhr ich von meiner Mutter, dass als Baby meine inneren Vulvalippen
verklebt waren und ein operativer Eingriff nötig war. Während sie das erzählte,
wirkte sie sehr nervös. Zu dem Zeitpunkt konnte ich ihre Unruhe nicht
nachvollziehen und dachte, dass es mir doch gut gehe und kein Grund bestehe,
sich Sorgen zu machen. Irgendwann kam mir dann zu Ohren, dass es so etwas wie
„ein Jungfernhäutchen“ gibt und die Angst meiner Mutter, dass meine frühe
Operation mein Jungfernhäutchen beschädigt haben könnte, übertrug sich auf
mich. Als ich mit gleichaltrigen
Freundinnen darüber sprach, stellte sich heraus, dass sie selbst ohne eine
solche Operation extrem besorgt waren und sich schon vor ihrer Hochzeitsnacht
fürchteten.

So war aus einem einfachen
medizinischen Problem meiner Kindheit eine Frage der Familienehre geworden.
Unter dem Vorwand, meine Eierstöcke untersuchen lassen zu wollen, brachte meine
Mutter mich einige Tage vor meiner Hochzeit zu einer Frauenärztin. Doch sobald
wir dort angekommen waren, teilte sie der Ärztin ohne Umschweife mit, dass sie
einen Jungfräulichkeitstest an mir durchführen lassen wolle, woraufhin die
Ärztin meine Mutter um die sofortige Zahlung von 2.000 Afghani bat, umgerechnet
etwa 30 Euro. In einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen etwa 350 Euro
beträgt, ist das ein kleines Vermögen. Ich war schockiert und verängstigt und
überhaupt nicht auf einen solchen Test vorbereitet.

Der Untersuchungsbereich der
Praxis war nur durch einen dünnen Vorhang vom Wartebereich abgetrennt, und so
konnte ich deutlich erkennen, wie die wartenden Frauen einander verächtlich
ansahen und miteinander tuschelten, als ich mich gegen die Durchführung des
Tests wehrte. Schließlich gab ich dem Drängen meiner Mutter nach und willigte
in die Untersuchung ein.

Die Ärztin teilte meiner Mutter
mit, dass mein Hymen zwar intakt sei, jedoch an einer Stelle eine Vertiefung
aufweise. Daraufhin fragte die Ärztin mich, ob ich mit meinem Verlobten sexuell
verkehrt habe. Ich verneinte, aber sie ließ sie nicht locker, sondern bohrte
weiter nach. Ich konnte an den Reaktionen der Frauen hinter dem Vorhang
deutlich merken, dass die Beharrlichkeit der Ärztin sie denken ließ, ich sei
keine Jungfrau mehr. Sie fingen an zu spotten, und sie spotteten hinter mir her,
bis ich die Praxis verlassen hatte. Es war eine bittere und demütigende
Erfahrung.