Julija Nawalnaja: Im gebrochenen Herzen welcher russischen Opposition

Am Ende des Konzerts, nach mehr als vier Stunden, tritt Julija Nawalnaja auf die Bühne der Uber Eats Arena in Berlin. Es ist der Abend des 4. Juni, eine Veranstaltung in Erinnerung an ihren unter bisher ungeklärten Umständen in einer russischen Strafkolonie verstorbenen Ehemann, den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. An diesem Tag wäre er 48 Jahre alt geworden. Während ihrer fünfminütigen Ansprache, die sie mit den Worten „Hallo, das ist Julija Nawalnaja“, in Anlehnung an Alexej Nawalnys bekannte Videogrußbotschaft „Privet, eto Nawalny„, „Hallo, das ist Nawalny“, beginnt, stockt ihre Stimme. Sie blickt in die Menge, in ihren Augen liegen Rührung und Dankbarkeit. 

„Ich spüre, dass ihr diesen Verlust mit mir gemeinsam durchlebt. Auch in den dunkelsten Zeiten gibt es Hoffnung. Schaut euch um. Ihr seid die Menschen, die diese Hoffnung verkörpern. Ihr und Millionen derer, die nicht gleichgültig sind.“ Hin und wieder legt sie Pausen ein, spricht langsam und bedacht: „Von Anfang an bis zum Ende hat Alexej an euch geglaubt. Ihr sollt wissen, egal was passiert, auch ich zweifle nicht an euch.“ „Danke“ und „Julija, wir sind mit dir“, ruft jemand aus der Menge. Nawalnaja wendet sich dem hinter ihr eingeblendeten Bild ihres Ehemannes zu: „Alles Gute, mein Liebster. Eines Tages, sehr bald, wirst du das wichtigste Geschenk bekommen, das du immer wolltest. Ein freies, glückliches und wunderschönes Russland. Wir werden es dir gemeinsam schenken.“ 

Dass dieses Event in Berlin stattfindet, ist nur logisch. Die deutsche Hauptstadt ist mittlerweile zum Zentrum des russischen Exils geworden, beherbergt politische Flüchtlinge diverser oppositioneller Schattierungen. An diesem Abend spielen das tatarisch-russische elektronische Hip-Hop-Duo Aigel, die Hip-Hop-Band Kasta, die Punkband Pornofilmy und der Rapper Noize MC. Sie alle haben Millionen Hörer auf der Welt. Teilweise ist ihre Musik in Russland verboten. 


Reportage vom Gedenkkonzert „This is Navalny“ in der Uber Eats Music Hall. Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verstarb im Februar 2024 in russischer Gefangenschaft. Sein Tod löste nationale und internationale Proteste aus.

Die Konzertbesucher sind überwiegend zwischen 20 und 40 Jahre alt. Viele von ihnen tragen T-Shirts mit Nawalnys Zitaten, dem Aufdruck seines Gesichts oder politischen Botschaften, die zugleich Liedtextzeilen aus den Songs der Bands sind, die an diesem Abend auftreten. Manche haben Flaggen der Ukraine oder die weiß-blau-weiße Flagge – ein Symbol der demokratischen russischen Opposition – um die Schultern geschlungen. Auch im Konzertgebäude gibt es Merchandise von Nawalnys Team. Die Einnahmen fließen in Nawalnys Antikorruptionsfonds und an Hilfsorganisationen für politische Gefangene. 


Julija Nawalnaja


Besucher Georgi lebt in Prag. Sein Vater kommt aus Georgien, wo aktuell die Zivilgesellschaft gegen russischen Einfluss demonstriert.

Vor dem Eingang zur Konzerthalle schreiben Menschen Botschaften auf eine große Leinwand. „Wir werden nicht vergessen und nicht verzeihen“, „Liebe ist stärker als Angst“, „Frieden für die Ukraine, Freiheit für Russland“ oder „Danke für alles, Alexej“ steht hier, größtenteils auf Russisch. Manche Besucher sind extra aus Belgrad, London, Athen oder Prag angereist, um auf das Konzert zu gehen. Die meisten stammen ursprünglich aus Russland, doch auch Belarussen, Ukrainer, Georgier, Kasachstaner und Litauer sind unter den Besuchern. 


An einer Wand können Besucher Botschaften der Hoffnung hinterlassen.

Einige von ihnen waren bereits am Morgen auf dem von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ausgerichteten Gottesdienst in der Marienkirche. Für die orthodoxe Kirche sprach dort der für seine Antikriegshaltung bekannte Priester Andrej Kordochkin und der Berliner Landesbischof Christian Stäblein, der versprach, dass Nawalny nicht vergessen werde: „Sie wollen, dass wir vergessen, was und wer ihn in den Tod getrieben hat.“ In diesem politischen Gottesdienst richtete Julija Nawalnaja eine knappe Dankesbotschaft an die Weggefährten ihres Mannes, an Politiker und Journalisten, die gekommen waren, um Abschied zu nehmen. Beim Hinausgehen konnte jeder eine Kerze für Alexej Nawalny anzünden. Sein Bild stand neben dem Kerzenschrein, fast wie die Ikone eines Heiligen.