Julian Assange: Staatsfeinde an welcher Macht

In der Serie „Politisch motiviert“ ergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 26/2024.

Die Haftentlassung von Julian Assange ist auch eine Erinnerung an eine fern wirkende Vergangenheit. Dreizehn Jahre sind verstrichen, seitdem der WikiLeaks-Gründer seine Freiheit verlor, erst durch seine Flucht vor US-Behörden in die ecuadorianische Botschaft in London, dann durch das Einsitzen im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. In dieser Zeit haben sich die politischen Großthemen radikal gewandelt.

Teilt man die letzten zwanzig Jahre entlang dieser Großthemen in zwei Phasen ein, verlief die erste von 2005 bis 2015, also vom Aufstieg von WikiLeaks bis zum Beginn der Flüchtlingskrise. Dank der Enthüllungen von Julian Assange, Edward Snowden oder Chelsea Manning standen in dieser Dekade die Kritik an Massenüberwachung und einem wuchernden Sicherheitsstaat immer wieder im Mittelpunkt der Debatten. Der Ruf nach informationeller Selbstbestimmung und behördlicher Transparenz wurde so vom Nischenthema weniger IT-Experten zur Forderung des politischen Mainstreams. Nachdem herausgekommen war, dass die NSA sogar das Handy Angela Merkels abgehört hatte, musste 2013 selbst die damalige Bundeskanzlerin bekennen: „Ausspähen unter Freunden geht gar nicht.“

Wollte man im Franz Kafka-Jahr 2024 eine literarische Analogie für die politische Grundstimmung dieser Zeit der Massenüberwachungsdebatten finden, wäre es zweifellos Der Process. In dem zwischen Mitte 1914 und Anfang 1915 von Kafka verfassten Roman, der vielerorts zur Schullektüre gehört, wird Protagonist Josef K. von einer geheimnisvollen Behörde verhaftet und einem Gerichtsprozess ausgesetzt, dessen Gründe und Ablauf er jedoch nicht durchschaut. Josef K. versucht sich dem Zugriff dieser monströsen Organisation zu entziehen, wird aber nur immer tiefer in deren labyrinthische Abgründe gezogen. Waren es Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning, die mit der Veröffentlichung von Geheimdokumenten gezeigt haben, dass unsere sicherheitspolitische Realität teilweise gar nicht so weit weg von Kafkas Fiktion ist, stiegen sie zu Helden einer neuen Bürgerrechtsbewegung auf.

Doch verlor eben diese Bewegung in den folgenden Jahren nicht nur an politischer Kraft, weil sie sich teilweise zerstritt. Das Thema verschwand auch deshalb zunehmend von der Agenda, weil viele Menschen gleichgültig wurden. Informationelle Selbstbestimmung und Kritik an einem geheimdienstlich hochgerüsteten Sicherheitsstaat sind heute, da User ihre Daten massenweise gleich selbst bei Techkonzernen abliefern, wieder zum politisches Nischenthemen geschrumpft.

Josef K. flieht, K. drängt sich auf

Zudem etablierte sich um 2015 langsam eine ganz andere politische Grundstimmung. Was war passiert? Im Zuge der Flüchtlingskrise avancierte der vermeintliche „Kontrollverlust“ zur politischen Diagnose der Stunde. Vielerorts rief man nach Grenzschließungen und beklagte sich, dass der Staat nicht handelt, die Rufe nicht gehört werden. Durch den folgenden Aufstieg der AfD verstetigte sich insbesondere bei deren Wählerschaft der anhaltende Eindruck, von den Mächtigen ignoriert zu werden. Das war freilich schon deshalb eigentümlich, weil in den letzten Jahren Politiker und Journalisten scharenweise in die Republik ausschwärmten, um „zuzuhören“ und die „Sorgen und Nöte“ ernst zu nehmen. Zumal sich das ja auch in der Politik niederschlug: In Fragen der Migration sind nahezu alle Parteien restriktiver geworden, Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete unlängst etwa, er wolle „im großen Stil abschieben“. Gebracht hat es den anderen Parteien wenig. Die AfD wuchs nicht nur weiter, sondern radikalisierte sich auch. Und weite Teile ihrer Anhängerschaft fühlt sich paradoxerweise nun ungehörter denn je.

Auch für diese politische Grundstimmung der zweiten Hälfte der letzten zwanzig Jahre gibt es eine literarische Analogie aus Kafkas Werk, und zwar Das Schloß. In dem 1922 verfassten und im Vergleich zu Der Process etwas weniger bekannten Roman landet der Protagonist K. in einem Dorf, dem das titelgebende Schloss vorgelagert ist, in dem wiederum einflussreiche Beamte wirken. K. will sich in dem Dorf niederlassen und deshalb bei den Mächtigen vorstellig werden. Doch je energischer er versucht, sich diesen Schlossherren zu nähern, desto weiter entziehen sie sich seinen Kontaktversuchen, rücken immer weiter in die Ferne. Max Brod, Kafkas langjähriger Freund sowie Herausgeber seiner Schriften, formulierte die Verschiebung zwischen Der Process und Das Schloss einst wie folgt: „Wesentlich ist es, dass der Held im ‚Prozeß‘ von einer unsichtbaren geheimnisvollen Behörde verfolgt, vor Gericht geladen, im ‚Schloß‘ von einer ebensolchen Instanz abgewehrt wird. ‚Josef K.‘ verbirgt sich, flieht – ‚K.‘ drängt sich auf, greift an.“

Dieser Unterschied zwischen Josef K. aus Der Proceß und K. aus Das Schloss beschreibt den politischen Atmosphärenwechsel innerhalb der letzten zwanzig Jahre ziemlich gut. Die – in Teilen auch zweifelhafte – Bewegung um Assange wollte im Kern den omnipotenten Sicherheitsstaat einhegen, dem Einzelnen das Recht verleihen, sich dem Zugriff zu entziehen. Der Preis, den Assange, Snowden oder Manning dafür zahlten, war ihre Auslobung als vermeintliche Spione und Staatsfeinde. Heute dominieren hingegen vor allem jene den Diskurs, die sich von der Macht nicht gehört fühlen und deshalb immer aggressiver an sie herandrängen. Dabei sind sie, die AfD oder die MAGA-Republikaner, sogar ganz ungeniert im Bunde mit Wladimir Putin und anderen autokratischen Staatsfeinden. Dass Assange also formal unter dem Espionage Act verurteilt wurde, während Putin-Buddy Trump bald wieder im Weißen Haus sitzen könnte, erscheint dann fast, nun ja, kafkaesk.