Jugendliche und Wahlen: Wir sollen den Jungen welches eröffnen
Domenico Müllensiefen, geboren 1987 in Magdeburg, ist Schriftsteller. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in der Altmark. Nach dem Schulabschluss machte er eine Ausbildung zum Systemelektroniker, später arbeitete er als
Techniker. 2011 begann er sein Studium am Deutschen Literaturinstitut
und arbeitete nebenberuflich als Bestatter. Kürzlich ist sein zweiter Roman „Schnall dich an, es geht los“ erschienen. Er lebt in Leipzig.
Der größte Aufreger der
Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg war nicht die Tatsache,
dass die rechtsradikale AfD in Thüringen auf dem ersten und in Sachsen und
Brandenburg auf dem zweiten Platz landete. In meinem Umfeld hatte ich nicht das
Gefühl, dass irgendjemand überrumpelt von diesem Wahlausgang war. Das größte Entsetzen kam auf, als klar wurde, dass in Brandenburg 32 Prozent der wahlberechtigten 16- bis 24-Jährigen ihr Kreuz bei den Nazis machten. In Sachsen
wählten 29 Prozent der Jungwähler AfD, in Thüringen waren es sogar 35 Prozent. Ein Drittel der jungen Menschen in Teilen Ostdeutschlands ist bereit, die durch und durch rechtsradikale AfD zu wählen. Ein
Drittel!
Trotz dieser beunruhigenden
Zahlen wäre es fatal, die Wahlergebnisse als ein ostdeutsches Problem abzutun.
Bei der letztjährigen Landtagswahl in Bayern hat die besagte
Altersgruppe mit 16 Prozent für die AfD gestimmt, in Hessen waren es 18 Prozent und schon
2022 in Niedersachsen zehn Prozent.
Noch vor der Coronapandemie hatte sich das Bild einer
Generation abgezeichnet, die sich stark für Umweltschutz einsetzt, die gewohnten
Regeln der Arbeitswelt infrage stellt und dafür teils äußerst scharf kritisiert wird. Heute habe ich das Gefühl, dass
unsere Gesellschaft damals einer naiven Erzählung verfallen ist. Das aktuelle Wahlverhalten junger Menschen aber allein mit der
intensiven Nutzung sozialer Netzwerke durch die AfD zu erklären, wie es manchmal passiert, scheint mir
zu kurz gegriffen. Statt nach einfachen Erklärungen zu suchen, enttäuscht zu sein von den jungen Menschen oder auf sie einzudreschen, benötigen wir intensivere und vielleicht ganz neue Formen der Jugendarbeit. Und mehr noch: Unsere ganze Gesellschaft steht der Jugend gegenüber in
Bringschuld.
Vor vier Jahren, während der Coronapandemie, forderten wir
von unseren jungen Mitmenschen ein, dass sie ihre Jugend zum Schutz älterer und
gefährdeter Personengruppen unterbrechen. Diese Pause dauerte fast drei
Jahre an. Drei Jahre, in denen es nicht möglich war, die Dinge zu erleben, die
die Jugend so unwiederbringlich und aufregend machen. Keine Konzerte, kein
Gefummel in der Raucherecke auf dem Schulhof, keine Klassenfahrten, in Sachsen
war zeitweilig selbst das Rumhängen auf Spielplätzen verboten. In dieser Zeit
dachte ich oft an meine eigene Jugend zurück und was sie im Rückblick so
wertvoll machte. Ich lernte andere Menschen kennen, konnte eskalieren, ausbrechen,
meine eigene Sexualität entdecken, konnte jung sein. Einen Großteil meiner mir
wichtigsten Erinnerungen habe ich in den Jahren zwischen 16 und 21 gesammelt.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, darauf zu verzichten.
Kaum war die Pandemie zu
Ende, wurden Stimmen laut, die forderten, dass Jugendliche ein soziales
Pflichtjahr zu leisten hätten: eine Maßnahme, um die Lücke zu schließen, die
sich durch die Abwertung der sozialen Berufe aufgetan hatte. Unser
Bundespräsident forderte dies in einem Ton ein, als handle es sich hierbei um
das wichtigste Projekt seiner Amtszeit. Ich fand das dreist. Junge Menschen
leisten drei Jahre den teuersten Dienst an unserer Gesellschaft, indem sie ihre
Existenz in einsamen Stuben fristen – und dann sollen sie auch noch politische
Versäumnisse korrigieren?
Ich freue mich über jeden
Menschen, der bereit ist, soziale und gesellschaftliche Verantwortung zu
übernehmen, wenn es denn freiwillig und selbstbestimmt geschieht und auch
angemessen bezahlt wird. Aber gut – wenn die Gesellschaft bereit ist, über
soziale Pflichtdienste zu diskutieren, dann schlage ich vor, dass das für alle
Altersgruppen gilt. Ein Jahr Pflichtdienst pro Lebensdekade. Beginnend mit dem
18. Geburtstag. Für alle! Und da ist es irrelevant, ob die persönliche
Lebensführung diesem gesellschaftlichen Bedarf im Wege steht.
Sie sind 39 und haben gerade
einen Spitzenjob in dem mittelständischen Unternehmen erlangt, für das Sie schon
ein paar Jahre arbeiten? Glückwunsch, der Weg wird weit gewesen sein. Jetzt
können Sie durchstarten, müssen vorher aber noch ein Jahr die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in der intensivpädagogischen Wohngruppe für Jugendliche
unterstützen, denn dort brauchen wir Menschen, die den Kids Perspektiven
aufzeigen können. Und Sie können ebenfalls etwas lernen. Vielleicht sind Sie
nach dem Jahr sogar bereit, ein Mentorenprogramm in Ihrem Unternehmen zu
etablieren, das den Schützlingen aus dem betreuten Wohnen zugutekommt. Aus Ihrer
Erfahrung im sozialen Bereich könnte ein Verantwortungsgefühl in Ihnen wachsen,
das Ihrem Unternehmen, aber auch Menschen zugutekommt, die auf dem ersten
Arbeitsmarkt vielleicht gar keine Chance gehabt hätten.
Sie planen gerade ein
Sabbatical, sind 45 Jahre alt und wollen nun mit dem Wohnwagen für ein Jahr
nach Portugal? Machen Sie das! Aber in den nächsten fünf Jahren werden Sie
ebenfalls ein Jahr im Krankenhaus aushelfen, bitte bedenken Sie das in Ihrer
Kalkulation. Ein Jahr Auszeit plus das soziale Pflichtjahr werden sich
zwangsläufig auf Ihre Rentenbezüge auswirken.
Sie sind 85 und leben
bereits im Altersheim, profitieren dadurch bereits von der Solidargemeinschaft?
Vielleicht ist Ihnen inzwischen bewusst, dass in den sozialen Berufen der Baum
brennt? In der Kita sieht es nicht besser aus. Eine Stunde verpflichtender
Vorlesedienst pro Woche bringt Sie mit Kindern in Kontakt. Sie kommen
mal wieder raus und entlasten dabei ein wenig die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen der Kinderbetreuung. Wenn Sie nun sagen, dass Sie gar nicht die
Möglichkeit haben, die Kita zu erreichen, seien Sie beruhigt: Den Fahrtdienst
übernimmt eine Person, die noch weiter unter 30 ist und sich ebenfalls im
sozialen Jahr befindet. Und einkaufen geht sie mit Ihnen auch.
In der Summe erscheinen diese
Forderungen von mir abwegig, bizarr und weltfremd. Andererseits sind das
Vorschläge, bei denen eine Gruppe über eine andere fremdbestimmen möchte, ja
häufig – nur finden wir dieses Anspruchsdenken völlig normal, wenn es um Jugendliche geht. Wir werden unseren sozialen Frieden nicht retten, indem wir junge
Menschen zwingen, soziale Dienstleistungen auszuüben. Es gibt aber andere
Ideen, die es meiner Meinung nach wert sind, ernsthaft diskutiert zu werden. Ideen, die die soziale Verantwortung junger Menschen stärken und dabei den
Vorteil haben, dass niemand gezwungen wird, etwas zu tun, was er oder sie gar
nicht möchte. Und besonders gut ist, dass es diese Angebote teilweise bereits
gibt.