Jugendfußball: Heute hat jeder ein Tor geschossen. Oder zusammenführen Trainer verletzt
Der vorliegende Text ist zunächst in der Zeitschrift „Ballett der Massen“ erschienen, die das Haus der Kulturen der Welt in Berlin zur Fußball-EM herausgegeben hat. Mit der beginnenden Saison im Jugendfußball und den Ereignissen um Lothar Matthäus‘ Rücktritt als D-Jugendtrainer erhält er neue Aktualität, weshalb wir beschlossen haben, ihn in leicht angepasster Form auch auf ZEIT ONLINE zu veröffentlichen.
Ein Samstagmorgen, ungefähr 8:30 Uhr. Ich stehe auf einem Sportplatz im Berliner Stadtteil Alt-Glienicke, es regnet, und ich darf nicht mal andere Väter anpöbeln. Mein Sohn feiert sein Fußballdebüt, jüngste Altersklasse, unterstes Spielniveau. Ich sehe Jungen, die über eigene und gegnerische Beine stolpern, eine ganze Mannschaft, die minutenlang in die falsche Richtung spielt. Ich sehe Würstchen auf einem Grill und einen Trainer mit Porkpie-Hut. Ich sehe einen Aufsteller, der mich an meine Vorbildfunktion erinnert: Bitte nicht rauchen, bitte nicht fluchen. Ich sehe Väter, die trotzdem rauchen und fluchen, mit Fahnen wedeln und Rasseln schwingen. Ich sehe das alles, nur keine Mädchen und kaum eine Mutter, denn ich bin hier, und ich gehöre dazu. Ich bin jetzt ein Soccer Dad.
Das ist zwei Jahre her. Zweimal wöchentlich bringe ich meinen Sohn seitdem zum Fußballtraining im nächsten Berliner Stadtteil. Fast jeden Samstag oder Sonntag fahre ich ihn außerdem zu Wettkämpfen, die fast immer frühmorgens stattfinden, damit die Trainer später noch Bundesliga gucken können und die Väter „noch nicht so betrunken sind“, wie ein erfahrener Soccer Dad einmal zu mir gesagt hat. Mein Sohn hat bisher nur zwei Einsätze verpasst, selbst seinem Trainer ist das aufgefallen. Bei einem der Vereinssommerfeste, die es natürlich auch noch gibt neben den ganzen anderen Terminen, hat er es einmal hervorgehoben. Es klang wie ein Sonderlob für meinen Sohn, aber auch wie eine Ermahnung an mich. Alter, was machst du mit deinem Leben?
Das ist schwerer zu beantworten als die Frage, wie es angefangen hat: mit einem Elternabend und einer WhatsApp-Gruppe, also eigentlich wie alle Kinderaktivitäten. Jugendfußball sei heute „anders als zu eurer Zeit“, sagte der Trainer bei diesem Elternabend, das Gleiche postete er später noch einmal in den Chat. Leistungsprinzip und Ergebnisse seien für ihn zweitrangig, jedem Kind wolle er stattdessen alle Möglichkeiten zur Entfaltung geben. Keine Ascheplatzschlachten mehr mit 23 Gegentoren und Schürfwunden, sondern viele kurze Spiele absolviere man heute, an deren Ende alle Beteiligten sagen könnten: Heute habe ich ein Tor geschossen.
Das war Informationsvermittlung, hatte aber auch was von Erwartungsmanagement. Leiser Verdacht: Niemand sollte glauben, dass man hier seinen Sohn abgibt und fünf Jahre später den nächsten Marco Reus wieder einsammelt. Noch ein leiser Verdacht: Mit der späten Verwirklichung eigener Karriereträume wird das beim Jugendfußball auch nichts mehr. Ein guter Soccer Dad verhält sich ruhig, lautete eine Kernbotschaft des Elternabends. Er ruft nichts rein, er coacht nicht mit, er verhöhnt weder eigene noch gegnerische Kinder. Ähnliche Worte schlug nun auch Lothar Matthäus an, als er seinen Rücktritt als D-Jugendtrainer des TSV Grünwald in einem Interview mit dem Münchener Merkur erklärte.
Schnick-Schnack-Schnuck
Die Eltern seiner Spieler seien aufeinander losgegangen, sagte Deutschlands Rekordnationalspieler, bei WhatsApp und sogar im richtigen Leben. Sie hätten ihn angerufen, um über Einsatzzeiten und Lieblingspositionen ihrer Kinder zu diskutieren. Matthäus wurde das zu blöd, also schmiss er hin. Der Trainer meines Sohns versuchte ähnliches Väterverhalten von Anfang an zu unterbinden, indem er Formen des Enthusiasmus anregte, die abseits von Fußballplatz und Handy funktionieren: in Fahrgemeinschaften und als Kassenwart, am Kuchenstand oder vor der Waschmaschine. Wer hat Bock, am spielfreien Wochenende das Vereinsheim zu streichen?
Auch abseits des sogenannten Münchener Nobelviertels Grünwald, auf niedrigerem Spielniveau und ohne Starcoach, wird viel Aufwand betrieben, um ein paar Sechs- bis Achtjährige von Smartphones fernzuhalten. Jugendfußball ist aber nicht nur eine anstrengende, sondern auch eine augenöffnende Erfahrung für heutige Väter. Viele von ihnen sind in Fußballvereinen groß geworden, bei denen der eigene Trainer mitunter auch der restalkoholisierte Schiedsrichter war und seinen Input auf Sätze wie „der erste Freistoß geht immer in die Mauer“ beschränkte. Etwas völlig anderes spielen die Kinder dieser Neunzigerjahrekinder heute. Nicht mehr Fußball, streng genommen, sondern: Funiño. Eine Abwandlung des Muttersports, ausgesprochen mit Betonung auf den ersten drei Buchstaben.
In Zweier- bis Viererteams treten die Spieler dabei an, verteilt über ein Sechstel-Fußballfeld. Jedes Team hat zwei kleine Tore anzugreifen und zu verteidigen, es gibt keine Torhüter oder Schiedsrichter. Die Kinder sollen selbst über strittige Situationen bestimmen (klappt meistens), die Trainer ihren Input auf Ein- und Auswechslungen beschränken (klappt selten), die Eltern nur moderat anfeuern (klappt nie). Mehrere jeweils achtminütige Spiele finden bei einem Funiño-Event gleichzeitig statt, sieben Spiele pro Mannschaft ergeben nicht etwa ein Turnier, sondern ein sogenanntes Festival. Niemand soll dabei Buch führen über Ergebnisse und Punkte, ein paar Väter machen es trotzdem. Geht mal ein Spiel unentschieden aus, entscheidet Schnick-Schnack-Schnuck darüber, wer zum nächst besseren Gegner weiter rotiert und wer sich am nächst schwächeren Team abreagieren darf. Die Kinder lieben es, im Schnick-Schnack-Schnuck zu gewinnen. Sie feiern das mehr als jeden Kantersieg.
Der vorliegende Text ist zunächst in der Zeitschrift „Ballett der Massen“ erschienen, die das Haus der Kulturen der Welt in Berlin zur Fußball-EM herausgegeben hat. Mit der beginnenden Saison im Jugendfußball und den Ereignissen um Lothar Matthäus‘ Rücktritt als D-Jugendtrainer erhält er neue Aktualität, weshalb wir beschlossen haben, ihn in leicht angepasster Form auch auf ZEIT ONLINE zu veröffentlichen.
Ein Samstagmorgen, ungefähr 8:30 Uhr. Ich stehe auf einem Sportplatz im Berliner Stadtteil Alt-Glienicke, es regnet, und ich darf nicht mal andere Väter anpöbeln. Mein Sohn feiert sein Fußballdebüt, jüngste Altersklasse, unterstes Spielniveau. Ich sehe Jungen, die über eigene und gegnerische Beine stolpern, eine ganze Mannschaft, die minutenlang in die falsche Richtung spielt. Ich sehe Würstchen auf einem Grill und einen Trainer mit Porkpie-Hut. Ich sehe einen Aufsteller, der mich an meine Vorbildfunktion erinnert: Bitte nicht rauchen, bitte nicht fluchen. Ich sehe Väter, die trotzdem rauchen und fluchen, mit Fahnen wedeln und Rasseln schwingen. Ich sehe das alles, nur keine Mädchen und kaum eine Mutter, denn ich bin hier, und ich gehöre dazu. Ich bin jetzt ein Soccer Dad.