Jerry Lee Lewis: Der Unheilige
Jerry Lee Lewis ist tot. Er war der größte Pianist des 20. Jahrhunderts, ein wahrer Revolutionär an seinem Instrument; gegen seine Körperlichkeit, seinen klanglichen Erfindungsreichtum, gegen seine Freiheit im Spiel wirken sämtliche andere Experimente der sogenannten musikalischen Avantgarde wie verklemmtes Geklimper. Manche hielten sich schon für wagemutige Künstler, wenn sie ihr Klavier präparierten. Er kippte kurzerhand Benzin darüber und setzte das Klavier in Brand. Auch seine Hoden brannten, es waren sehr große Hoden, und sie brannten ein Leben lang: Great Balls of Fire hieß Jerry Lee Lewis‘ größter Hit.
Geboren wurde er 1935 in Ferriday in Louisiana. Eigentlich sollte er Priester werden. Mit 15 schickten seine Eltern ihn ans Southwestern Bible Institute in Waxahachie in Texas, auf dass er Gott suche und finde und sein Leben in Frömmigkeit verbringe. Vielleicht erhofften sie sich dadurch auch Erlösung von ihren eigenen Sünden. Der Vater verdiente sein Geld als Schwarzbrenner und Whiskeyschmuggler. Die Mutter aber ahnte wohl schon, dass ihr Sohn nicht zum gottgefälligen Leben taugte, bereits als Kind hatte sie ihm dem Spitznamen „Killer“ verpasst. Damit er seiner Leidenschaft für die Musik frönen konnte, hatten die Eltern eine Hypothek auf ihr Haus aufgenommen und kauften dem Jungen davon ein Klavier.
Also lernte er den Blues, aber der Blues ist bekanntlich die Musik des Teufels, und weil er auch im Bibelinstitut nicht davon lassen konnte – vor einem entgeisterten Publikum in der Kapelle spielte er die Hymne My God Is Real in einer Boogie-Woogie-Version –, flog er nach drei Monaten von der Schule. Den Rest seines Lebens hat Jerry Lee Lewis dann dem Teufel gewidmet: „Der Teufel hat so viel Macht wie Gott“, hat er später einmal in einem Interview gesagt. „Wenn du Gott nicht treu sein kannst, musst du dem Teufel treu sein. Es gibt kein Dazwischen. Man kann keinen zwei Herren dienen.“
Rocken und Rollen
Lewis ging nach Memphis und kam bei Sun Records unter Vertrag, wo zwei Jahre zuvor Elvis Presley seine ersten Singles veröffentlicht hatte. Dies war die Geburtsstätte des Rock ’n‘ Roll, aber keiner zeigte so unmissverständlich wie Jerry Lee Lewis, was Rocken und Rollen eigentlich heißt. Crazy Arms hieß 1957 sein erster kleiner Hit, und sein zweiter Hit war schon ein sehr großer: Whole Lotta Shakin‘ Goin‘ On singt, schreit und jodelt Lewis, während er dazu sein Klavier malträtiert. Er fordert sein Baby auf, zu ihm zu kommen, damit beide gemeinsam was schütteln können; sie soll mit ihm in die Scheune gehen, denn dort wartet ein Bulle darauf, dass man ihn an den Hörnern fasst.
Aus diesem Metaphernkreis würden die Songs von Jerry Lee Lewis im Folgenden weiter schöpfen, auch seine musikalischen Leitmotive waren hier gesetzt. Mit der linken Hand spielte er kräftige Blues- und Boogie-Rhythmen, mit der rechten Hand eine blitzende Melodie, es zuckte und ruckelte, bis es zum gleißenden Höhepunkt kam, und bei seinen Auftritten – in der Frühzeit seiner Karriere waren es bis zu 250 im Jahr – sprang er kurz vor Schluss von seinem Klavierhocker auf, kickte ihn mit dem linken Fuß lässig nach hinten weg und spielte bis zum Finale im Stehen. Wenn er nicht aus dem Stand auch noch gleich auf das Klavier hochsprang, um dann mit den Füßen auf der Tastatur herumzutreten und bei einem besonders denkwürdigen Auftritt im Jahr 1958 das Instrument eben mit Feuerzeugbenzin zu übergießen und in Flammen zu setzen: „goodness gracious, great balls of fire!“
Da war Jerry Lee Lewis gerade 23 Jahre alt, aber auch schon zum dritten Mal verheiratet, seine Ehefrau war zehn Jahre jünger als er und seine Cousine, und seine zweite Ehe war auch noch gar nicht geschieden. Was in den Südstaaten damals nicht weiter ungewöhnlich war, aber ihm bei einer Tournee durch Großbritannien schlechte Schlagzeilen brachte. Und als er in die USA zurückkehrte, weigerten sich fast alle Radiostationen, seine Songs noch zu spielen.
Seine Karriere knickte, aber im Verlauf der Sechzigerjahre arbeitete er sich langsam wieder nach oben, er spielte unzählige Konzerte in kleinen Clubs und eines davon wurde 1964 für ein Livealbum mitgeschnitten, das zu den besten der Geschichte gehört: Live at the Star Club Hamburg klingt so, als ob Jerry Lee Lewis nicht nur den Rock ’n‘ Roll erfunden hat, sondern auch gleich noch den Punk und den Hardrock und den Heavy, Black und Thrash Metal dazu, so hart sind die Schläge auf dem Klavier, so unheilig sind die Vibrationen, die das gesamte Programm durchziehen; so intensiv ist diese Musik, dass man sich beim Hören des Albums mitten im Saal zu befinden glaubt, direkt vor der Bühne, von der dieser wild gewordene Watz jeden Moment auf einen herunterzuspringen droht.
Am Ende der Sechziger wechselte Jerry Lee Lewis seinen Stil und spielte nun milder temperierte Countrymusik, gern auch vor folkloristisch gefiedelten Klanghintergründen. Mit Songs wie Another Place, Another Time und What’s Made Milwaukee Famous hatte er nun wieder Hits, er verkaufte Millionen von Platten, konnte sich zwei Privatflugzeuge leisten und mehrere Limousinen. Eine davon fuhr er 1976 vor Graceland, dem Anwesen von Elvis Presley, zu Schrott; Jerry Lee Lewis war betrunken, auf dem Armaturenbrett lag ein geladener Revolver. Im selben Jahr fuchtelte er an seinem Geburtstag, wiederum betrunken, mit einer Smith & Wesson herum und schoss seinem Bassisten aus Versehen in die Brust, der Bassist überlebte und verklagte ihn. Anfang der Achtzigerjahre starben zwei der insgesamt sieben Ehefrauen von Jerry Lee Lewis unter ungeklärten Umständen, eine Mitschuld Lewis‘ konnte nie bewiesen, aber der Verdacht auch nicht ausgeräumt werden. Menschen, die ihn von Nahem kannten, bestätigen den Eindruck, den man aus der Ferne gewann: Jerry Lee Lewis war kein netter Mensch; dass er ständig wieder wechselnden Drogen verfiel, machte den Umgang mit ihm offenbar nicht einfacher.
Es war ein Wunder, dass Jerry Lee Lewis so lange überlebte. Last Man Standing hieß denn auch ein Album, das er 2006 aufnahm, gemeinsam mit einigen jüngeren Verehrern und Schülern, die sich über sein Überleben freuten: Bruce Springsteen, Mick Jagger, Keith Richards, Neil Young, Jimmy Page und noch ein Dutzend weitere waren dabei. Sein, wie wir nun wissen, letztes Album kam in diesem Frühjahr heraus. Darauf spielt und singt er nun doch noch in frommer Weise Gospellieder zum Lobpreis des Herren, und zwar gemeinsam mit seinem Cousin Jimmy Swaggart, mit dem er schon in seiner Kindheit musizierte: The Boys from Ferriday nennen die beiden sich. Anders als Jerry Lee Lewis kam Jimmy Swaggart erfolgreich durch das Priesterseminar und stieg in den Siebzigerjahren zu einem der erfolgreichsten, aber auch reaktionärsten christlichen Fernsehprediger der USA auf. Er verdammte den Rock ’n‘ Roll als Musik des Teufels und kämpfte gegen Unsittlichkeit jedweder Art, bis er in den Achtzigern über diverse Sexaffären stolperte – es hätte für Jerry Lee Lewis also gar keinen besseren Duettpartner geben können. Gemeinsam singen sie zum Beispiel Jesus, Hold My Hand, und man stellt sich unwillkürlich dabei Jesus vor, wie er sagt: Ich möchte das lieber nicht. Am Freitag ist Jerry Lee Lewis im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in der Nähe von Memphis gestorben.