Jean-Philippe Toussaints neuer Roman: Schachbrett jener Erinnerung

Die Beschneidung von Freiheitsrechten kann irgendwas zutiefst Befreiendes nach sich ziehen. „Kurz gesagt, seitdem Beginn des Lockdowns führe ich, ohne es zu wissen, ein glückliches Leben“, schreibt jener belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint. Fast aus Termine des 1957 geborenen Autors sind zu diesem Zeitpunkt – ergo vor weitestgehend genau vier Jahren – abgesagt. Toussaint hat keine schulpflichtigen Kinder, mit denen er Homeschooling zeugen müsste, und er ist, dasjenige darf man entgegennehmen, qua erfolgreicher Autor geldlich recht gut abgesichert. Homeoffice wiederum ist zum Besten von vereinigen Literaten ohnehin obligatorisch. Man muss sich Toussaint qua vereinigen sehr glücklichen Menschen vorstellen.

So kann er in aller Ruhe an einer Neuübersetzung von Stefan Zweigs Schachnovelle sitzen, die im August 2023 unter dem Titel Échecs – hinauf Deutsch „Schach“, dessen ungeachtet sekundär „Scheitern“ – in die Buchläden kommen wird. Zugleich arbeitet er an einem Buch, dasjenige dasjenige Transkribieren und dasjenige Leben in jener Pandemie zum Thema hat. Also an jenem Werk, dasjenige jetzt erschienen ist.

Der Wunsch nachdem Isolation erinnert natürlich stark an die Romanfigur seines grotesken Debüts Das Badezimmer, die sich vereinigen gekachelten Lockdown herbeisehnt. Der junge Mann will sein Leben im Bad zubringen und die Umwelt vergessen. Als dasjenige minimalistische Buch 1985 in Frankreich und zwei Jahre später in Deutschland erschien, war die Wanne zum Besten von eine verschworene und begeisterte Leserschaft schnell eingelassen – solange bis heute hat jener Roman ohne Plot und Botschaft den Nimbus eines populären Geheimtipps nicht verloren. „Der Schriftsteller muss keine Botschaft zustellen“, unterstreicht Toussaint dann sekundär noch einmal in Das Schachbrett. Dieses Statement ist Teil einer Antwort hinauf dasjenige Schreiben einer Schülerin, die beim Lesen eines seiner früheren Romane ziemlich unentschlossen zurückblieb und dasjenige Bedürfnis hatte, ebendiese Lektüre-Enttäuschung dem Autor in aller Deutlichkeit mitzuteilen.

Samuel Beckett soll dasjenige gleichwohl irgendwas andersartig gesehen nach sich ziehen, zum Besten von ihn sei Toussaint jener letzte Gegenwartsautor gewesen, zum Besten von den er sich schier noch schaulustig habe. So jedenfalls erzählte es Toussaints deutscher Verleger Joachim Unseld im Rahmen jener Deutschlandpremiere von Das Schachbrett in Frankfurt am Main (leider in Abwesenheit des Autors). Unseld hat vereinigen Großteil jener Werke seines Autors selbst übersetzt. Fast vollwertig sekundär die meisterhafte Marie-Tetralogie oberhalb eine weitestgehend unmögliche Liebe. Die Minireihe ist durchsetzt mit Thriller-Elementen und pendelt aufregend zwischen Asien, Paris und Elba hin und zurück. Mit jener banalen Schlager-Textzeile „Schachmatt durch die Dame im Spiel“ ließe sich dieser Viererpack in aller Prägnanz umreißen.

Nun dessen ungeachtet nach sich ziehen wir es mit einem anderen Fachterminus zu tun, dem sogenannten Springerproblem. Kenner jener Materie wissen, welches gemeint ist, Laien werden von Toussaint unter Bezugnahme hinauf den kaleidoskopischen und verschachtelten Roman Das Leben Gebrauchsanweisung von Georges Perec oberhalb die Metapher vorurteilsfrei: „Es handelt sich um ein mathematisch-logisches Problem, sekundär dasjenige Springerproblem genannt, dasjenige darin besteht, zum Besten von vereinigen Springer hinauf einem Schachbrett eine Route zu finden, hinauf jener dieser die 64 Felder durchläuft, ohne mehr qua einmal hinauf demselben Feld zu verweilen.“

Damit ist dasjenige Feld zum Besten von Toussaints erstes rein „autobiografisches“ Buch abgesteckt; jener gerissene Fiktionstrickser Toussaint spricht gleichwohl – entgegen jener literarischen Mode – nicht von einem „autofiktionalen“. In 64 Kapitel gliedert sich dieses romanhafte Memoir, dasjenige nur hinauf jener Oberfläche ein „Corona-Buch“ ist (andersartig qua die Phalanx jener Pandemie-Bücher, wie etwa jener zum Besten von den Juni angekündigte Interviewband Alles überstanden? mit Christian Drosten). Eine derartige Genre-Zuschreibung taugte im Rahmen Toussaint sekundär höchster zum Besten von dessen zeitliche Entstehung, ergo zum Besten von die Dauer dieses anregenden, virtuos umgesetzten literarischen Spiels, im Rahmen dem weder eine verschwörungstheoretische noch eine sachlich-berechtigte Abrechnung mit staatlichen Maßnahmen zum Zuge kommt. Auch ist dasjenige Buch kein nerdiger, anspielungsreicher Schachspezialisten-Schmöker (genauso wenig wie Zweigs Schachnovelle). Toussaints erster Zug, seine Brüsseler Eröffnung sozusagen, lautet vielmehr: „Ich habe hinauf dasjenige Alter gewartet, ich finde mich im Lockdown wieder.“ Mit nur einem Satz endet dasjenige erste Kapitel.

Ab diesem Zeitpunkt wird jener Ich-Erzähler zum tänzelnden Springer zwischen jener Vergangenheit und dem Pandemie-Alltag. „Ich stand reglos vor dem Schachbrett meiner Erinnerung – und dort werde ich oberhalb die gesamte Länge dieses Buches stillstehen bleiben, dasjenige ist die Gegenwart dieses Buches, es ist seine unendliche Gegenwart“, heißt es einmal.

Samuel Beckett berührt Toussaint hinauf seinen Gedankenreisen und im Rahmen seinen Überlegungen zu Literatur und Film „in Echtzeit“ hier übrigens ausnahmsweise nicht – hierfür kommen Federico Fellini, Marcel Proust oder die Schachfanatiker Perec und Vladimir Nabokov ins Spiel, im Vorfeld er dann schnell wieder woanders hinspringt. Zur Frage des Älterwerdens, in die Zeit hinauf dem Internat, zum Stipendiaten-Dasein in Berlin-Halensee oder zu den Partien, die Toussaint qua Heranwachsender im Portugal-Urlaub mit seinem Vater austrug. Der ehemalige Starjournalist ließ den Sohn nicht einmal mit Absicht Vorteil verschaffen. Toussaint dessen ungeachtet entwickelt sich im Laufe jener Jahre vom Laien weitestgehend zu einem Profi, er nimmt an Schachturnieren teil und schaut sich solche an, im Rahmen denen die Besten jener Welt ringen.

Viele Kapitelfelder sind seinem Jugendfreund Gilles Andruet gewidmet, einem Schachfreak, jener 1988 französischer Meister wird. Er wird im Alter von 37 Jahren mit einem Baseballschläger zu Tode geprügelt. Drogen und Spielsucht sollen im Rahmen dem solange bis heute unaufgeklärten Mord eine maßgebliche Rolle gespielt nach sich ziehen. Ein Boulevard-Thema, dasjenige man ausschlachten könnte. Aber Toussaint schreibt: „Das Niedrige und Schmutzige interessierte mich nicht.“ Was zum Besten von ein schöner Zug dieses so eigenwilligen, genialen Erzählers.

Das Schachbrett Jean-Philippe Toussaint Joachim Unseld (Übers.), Frankfurter Verlagsanstalt 2024, 256 Sulfur., 24 €