Jakob Nolte: Hannover, ja, schon toll

Es gibt ein Genre in der Literatur, das statthaftes Unterhaltungsbedürfnis mit touristischem Nebennutzen kurzschließt. Diese Kombination heißt dann Regionalkrimi, und besonders beliebt ist der in Deutschland. Hierzulande existieren, da können wir nur grob schätzen, 2914 Inselkrimis, ehrgeizig viele Krimis aus Franken, aus der Eifel, aus jedem Mittelgebirge, sogar aus Würzburg und Altötting. Ein besonderes Exemplar lässt sich nun aus Hannover vermelden, und man kann es durchaus als Hommage an diese Unterabteilung der Romanproduktion lesen, an deren provinzielle Putzigkeiten und Spannungsbögen, die mit einer Selbstverständlichkeit zwischen möglicherweise sehenswerten Orten und Straßennamen aufgespannt werden, als sei man in New York.

Der Roman stammt vom Schriftsteller Jakob Nolte, der sonst verspielte Bücher über unsere Gegenwart und deren mediale Repräsentationen schreibt. Bücher voller spezialistischem Anspielungswahnsinn, großzügig cartoonesker Komik und ebenso großzügigen Faltenwürfen von Ironie. Und auch dieser Krimi, und als solchen muss man ihn wohl zunächst behelfsweise bezeichnen, ist ein kurios gut gelaunter Roman, obwohl gleich zu Beginn ein junger Mann namens Sebastian tot an einem Baum im Park lehnt, die Inline-Skates noch an den Füßen, und die Kommissarin Rita Aitzinger sich sofort des Falls annimmt.

Aitzinger, die robuste Hauptfigur dieses Buchs, läuft mit Gerechtigkeitsliebe und einer gewissen Verinselung durch die Welt, sie interessiert sich für Modellbau und Rennfahren, gelegentlich kotzt sie abends zu Hause, bis viskoser Schleim kommt, weil alles so fürchterlich ist: „Hinter allem, was wir sehen, sind unendlich viele Sternchen mit Anmerkungen, eine unermessliche Anzahl an Details, an Wissen, jedes davon auf seine Art interessant, und trotz dieser Wunder und Schrecken bestimmt vor allem ein Gefühl das Leben: die Langeweile.“

Formal befinden wir uns weiterhin in einem sehr klassischen, in Erzähllogik und Personal archetypisch gebauten Kriminalroman. Es gibt nicht nur die etwas aus der Welt gerückte Ermittlerin, es gibt die Kollegen der Mordkommission (der eine dumpf, der andere gemütlich). Es gibt die Polizeichefin, den Staatsanwalt, eine neugierige Journalistin, den Gerichtsmediziner, Verdächtige und vermeintliche Zeugen, die Eltern des Toten, mit denen Jakob Nolte seinen erzählerischen Spaß hat, der, das muss man glücklicherweise sagen, nicht im Satirischen liegt. Die Figuren sind keine entlarvenden Parodien von Genreklischees, sondern Inkarnationen von Typen, die Nolte hier aus dem unerschöpflichen Reservoir deutscher Kriminalerzählungen und dem rituellen Mord und Totschlag am Sonntagabend einfach zusammenschiebt.

Rita Aitzinger ermittelt, sie fährt hierhin und dorthin, hier ein Tipp, hier eine Spur, ein bisschen Studentenszene, ein paar Kulturheinis, die ihr überraschend aktuelle Vorträge halten: „Versteht ihr nicht, dass politische Ideale an Kunst zu koppeln bedeutet, sie in Moden zu verwandeln und damit in Produkte eines Kulturmarkts, der mit Kulturkampf oder gesellschaftlichen Veränderungen nichts, aber auch gar nichts zu tun hat?“ Es gehört ja zum Wesen des Krimis, dass vor allem die Details potenzielle Bedeutung haben, und dadurch, dass eine Ermittlerin andauernd in fremde Leben hineinsieht, alles registrieren und inspizieren muss, kann Nolte, der sich in seinen Romanen mit ästhetischen Codierungen, Verwinklungen und Semantiken unserer seltsamen Konsum- und Dingwelt beschäftigt, seinen Obsessionen völlig nachgeben: Was Lieder von Taylor Swift bedeuten, was die richtige Hamburger-Bulette ausmacht, wie Opernhäuser gebaut werden sollten, unsere hilflose, verspannte Kommunikation in Dating-Apps, es ist bisweilen ein gehobenes Nerdtum, das einen hier anweht.

Dazwischen gelingen Nolte Bilder von hoher tragikomischer Absurdität, da sitzt dann ein Polizist nach seiner Schicht an einem Online-Rollenspiel namens China, wo er in die Rolle eines kleinen Jungen schlüpft, „der an der Grenze zur Mongolei mit anderen Kindern Verstecken spielte und sich zum Geburtstag ein Mountainbike wünschte“. Oder Nolte schreibt Sätze wie: „Sebastian liebte den Wind und das Hinsetzen.“ In der Schöpfung solcher fantasievollen, ideenreichen Kleintraurigkeiten liegt der eigentliche Reiz des Buchs, und man kann davon ausgehen, dass Jakob Nolte das alles eher rührend findet: Menschen tun mit drolliger Vergeblichkeit Dinge, manche von ihnen wohnen sogar in Wolfsburg oder im Umland, in Hessisch Oldendorf zum Beispiel, und, na ja, da wir schon mal dort sind, sehen wir uns um. So entsteht in diesem ansonsten kokett konventionell abschnurrenden Krimi nicht nur ein ganzer Reigen von Skurrilitätsminiaturen, sondern eine Seelengeografie eines Landstrichs, im Zentrum ein Fantasie-Hannover, mit Orten, die es nicht gibt, und manchen, die es gibt. Und Niedersachsen ist ja im Wesentlichen schon in Ordnung. Das gilt auch für dieses Buch.

Jakob Nolte: Die Frau mit den vier Armen.  Roman; Suhrkamp, Berlin 2024; 235 S., 20,– €, als E-Book 16,99 €