Israelische Armee vertreibt 500.000 Menschen aus Rafah
Israelische Truppen haben ihre Offensiven im gesamten Gazastreifen fortgesetzt und greifen auf Panzerfeuer, Artilleriebeschuss und Luftangriffe gegen Hamas-Kämpfer zurück. Es gibt die intensivsten Kämpfe seit Wochen.
Für den Süden des schwer zerstörten Gebietes berichten Augenzeugen über Hubschrauberangriffe und Straßenschlachten in Rafah, als die israelischen Streitkräfte (IDF) ihre Kontrolle über die Viertel östlich der strategischen Straße Salah al-Din zu festigen versuchen.
Die Straßen in Richtung Norden und Westen sind seit Tagen verstopft
Im Norden rückte die IDF erneut nach Jabaliya und Beit Lahiya vor, beides Gebiete, in denen bereits zu Beginn des siebenmonatigen Krieges heftige Kämpfe ausgetragen wurden. Es wird geschätzt, dass bis zu 500.000 Menschen aus Rafah geflohen sind, seit sie die IDF vor den ersten Angriffen rund um und in der Stadt vor einer Woche aufforderte, das Gebiet zu verlassen. Seither sind die Straßen in Richtung Norden und Westen mit Autos, Lastwagen, Trolleys und Ponykarren verstopft, die mit Menschen und ihren Habseligkeiten beladen sind.
Die Kämpfe haben die großen Hilfsorganisationen gezwungen, ihre Aktivitäten im gesamten Gazastreifen einzustellen oder einzuschränken, da der Mangel an Treibstoff, Nahrungsmitteln und sauberem Wasser immer akuter wird. Wie hoch die Risiken für Helfer in Gaza sind, wurde erneut deutlich, als ein UN-Fahrzeug auf dem Weg zu einem Krankenhaus in Gaza angefahren wurde.
Benjamin Netanjahu nahm Anfang der Woche an einer Zeremonie in Jerusalem zum Gedenken an die gefallenen israelischen Soldaten teil und sagte, der Krieg gegen die Hamas sei ein existenzieller Kampf. „Entweder wir oder sie – Israel oder die Monster der Hamas. Es geht um Existenz, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand oder um Vernichtung, Massaker, Vergewaltigung und Versklavung. Wir sind entschlossen, diesen Kampf zu gewinnen.“
Im Zentrum des Flüchtlingslagers Jabaliya schlagen Panzergranaten ein
Israel hat seine jüngste Rückkehr in den Norden, von wo es vor fünf Monaten die meisten seiner Truppen abgezogen hat, als Teil einer „Säuberungsphase“ des Krieges beschrieben, um die Rückkehr von Kämpfern zu verhindern. Es hieß, solche Operationen seien schon immer Teil der praktizierten Strategie gewesen.
Analysten betonen hingegen, die neuen Gefechte unterstreichen das Versagen der IDF, einen Großteil des Gazastreifens zu sichern. Dieses Fazit müsse man nach einer Kampagne ziehen, die zu massiven Zerstörungen, der Vertreibung von etwa zwei Millionen Menschen und dem Tod von mehr als 35.000 Menschen geführt habe.
Im Ort Jabaliya flohen Bewohner mit Taschen voller Habseligkeiten durch die von Trümmern übersäten Straßen aus ihren Häusern. Im Zentrum des dortigen Flüchtlingslagers seien Panzergranaten eingeschlagen und Häuser durch Luftangriffe zerstört worden, hieß es.
„Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen. Wir wurden von einem Ort zum nächsten vertrieben … Wir rennen durch die Straßen. Ich sah es mit meinen eigenen Augen. Ich habe den Panzer und die Bulldozer gesehen. Sie stehen in dieser Straße“, sagte eine Frau.
Netanjahu erklärte inzwischen, Rafah sei die letzte Hochburg der Hamas, und Israel könne seine Kriegsziele – definiert als Zerstörung der militanten islamistischen Organisation – nur erreichen, indem es Militante und Anführer in der Stadt tötet und sicherstellt, dass es keine weitere Bedrohung für Israel aus Gaza und eine Rückkehr der Geiseln gibt.
Auf jeden Fall hat der Angriff auf Rafah die Beziehungen zwischen Israel und den USA, dem stärksten Verbündeten, belastet. Washington erklärte wiederholt, dass Israel Rafah nicht angreifen dürfe, ohne einen Plan zum Schutz der Zivilbevölkerung zu haben, den es noch nicht gesehen habe. Am Montag sagte der stellvertretende US-Außenminister Kurt Campbell, die Biden-Regierung halte es nicht für wahrscheinlich oder möglich, dass Israel beim Kampf mit der Hamas in Gaza einen „totalen Sieg“ erringen werde. „In mancher Hinsicht streiten wir darüber, was die Theorie des Sieges ist“, so Campbell und fügte hinzu: „Das ähnelt stark den Situationen, in denen wir uns nach dem 11. September 2001 befanden.“
Gaza gerät an den Rand einer tödlichen Epidemie
Die israelische Offensive habe massive Schäden an Schulen, Häusern, Kommunikations- und Energiesystemen, Straßen und vielem mehr verursacht, so Oxfam, die in Großbritannien ansässige Hilfsorganisation. Die Zerstörung wichtiger Wasser- und Sanitärinfrastruktur durch die israelischen Streitkräfte sowie die Überfüllung der Camps, die Unterernährung und Sommerhitze brächten Gaza an den Rand einer tödlichen Epidemie. „Die Situation ist verzweifelt, weil so viele Menschen gezwungen sind, unmenschliche und unhygienische Bedingungen zu ertragen, die durch die anhaltende israelische Bombardierung verursacht werden“, sagt Sally Abi Khalil, Oxfam-Direktorin für den Nahen Osten.
Der Ort Al-Mawasi, in der „erweiterten humanitären Zone“, die von Israel als Ziel für diejenigen ausgewiesen wurde, die Rafah verlassen sollten, ist vollgepackt mit Zelten und Unterkünften. Doch verfügt man dort nur über begrenzte sanitäre Einrichtungen, minimale Wasservorräte und zu wenig Nahrung, sagen die dorthin Vertriebenen, wie der 32-jährige Nasser Abu Shamala, der in der vergangenen Woche mit seiner Familie al-Mawasi von Rafah aus erreichte. „Es gibt keine lebensnotwendigen Dinge, kein Wasser und nur sehr knappe und sehr teure Lebensmittel.“
Währenddessen bleibt der Übergang nach Ägypten bei Rafah weiterhin geschlossen. Zugleich machen es die Kämpfe sehr schwierig, dass von Kerem Shalom in Israel aus die Hauptversorgungsroute für Hilfskonvois genutzt werden kann.