Israel-Tagebuch: Wer hilft beim Aussäen in Gaza
Unweit von Sderot, ebenfalls ganz dicht an der Grenze zum Gazastreifen, liegt ein Kibbuz, das am 7. Oktober 2023 nicht ganz so schlimm getroffen wurde. Eine Frau von dort war am Tag des Massakers sehr früh zum Joggen auf gewesen. Sie sah die Hamasleute kommen und schlug Alarm. Das Emergency-Team übernahm. Sie sollen die Ersten gewesen sein, die die Hamas bemerkt haben. Die Kämpfe haben das Kibbuz dennoch gezeichnet.
Wie in allen Kibbuzim, Städten und Siedlungen rund um Gaza, dem Gebiet namens Gazagürtel, evakuierte man die Einwohner. Geisterstädte blieben, nur nach und nach kommen vereinzelt Menschen zurück. Ein großer Stein, ein bemalter Betonblock vor dem Ortseingang. Blumen und Schrift „Wir freuen uns, dass ihr zurückkommt.“ Viel weiter kamen wir nicht. Drei Soldaten hielten Wache vor der Anlage.
Dass man nicht eben mal abends in einen Kibbuz gehen kann, ist klar. Genervt von ausländischen Neugierigen. „Is she with us or against us“, höre ich den jüngsten der Soldaten meinen Begleiter fragen. Was er antwortete, verstand ich nicht mehr ganz. Aber der Soldat, erst misstrauisch, dann wohlwollender, blühte mehr und mehr auf. Ja, ich dürfe fotografieren. Nein, nicht im Inneren der Wohnanlage. Aber ihn.
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Sein Dienst im Kibbuz war eigentlich Renovieren und beim Säen helfen. Seine frühere Militärzeit bei den Golan-Brigaden. Wie viele Israelis, die ihren Militärdienst hinter sich gebracht hatten, gingen er und „ein Haufen Ex-IDF-Leute“ erstmal ins Ausland, Südamerika-Trip. Den 7. Oktober hatten sie aus der Ferne verfolgt. Erst nicht so ernst genommen, dann kamen die Nachrichten „wie verrückt“. Dann Fassungslosigkeit. Es sei klar gewesen, dass man zurückmusste. Er sitzt in dem überdachten, zeltlagerartigen Eingangsbereich. Die älteren sind eher gelangweilt. Er sitzt aufrecht und straff. Spricht druckreif und mit zuversichtlichem IDF-Poster-Boy-Gesicht.
Die Geiseln zurückbringen
„Es muss in Gaza irgendwann zu einem Ende kommen.“ Aber man könne den Job nicht beenden, solange die Geiseln nicht zurück seien. Selbst wenn sie als Leichen zurückkämen. „Wir müssen sie nach Hause bringen! Damit die Mütter ihre toten Kinder ins Grab legen und um sie weinen können, damit sie sie mit ihren eigenen Augen sehen.“
„Wir müssen diesen Job zu Ende bringen, damit es nie mehr passiert.“
Nie wieder, nie. Nicht in Gaza, nicht in der Westbank, nicht mit der Hisbollah im Norden.
„Und wenn die Geiseln zurück sind?“ Wie rückhaltlos mag dann die Bombardierung weitergehen, mag die Artillerie alles niedermähen. Gibt es dann noch irgendeinen Grund, die Zivilbevölkerung zu schonen, mit der man bisher alles andere als schonungsvoll umgegangen ist. Was also dann? Werden dann alle in Gaza, egal ob Hamas oder Nicht-Hamas nieder gebombt?
An diesem Punkt der aussichtslosen Lage mauern die meisten, dann heißt es oft, es gäbe in Gaza keine Zivilisten. Oder die sogenannten Zivilisten hätten die Hamas schließlich selbst gewählt. Man kann dann fragen: „Wann waren die letzten Wahlen? Waren es demokratische Wahlen? Regiert die Hamas demokratisch?“ Oder wie sähe Deine Art des Widerstands aus in einem verriegelten Landstrich, von dem nicht jeder sich einfach aus dem Staub machen kann? Manche sagen dann: gerade Du, als Deutsche, musst wissen, dass Menschen immer eine Wahl haben. Im Dritten Reich hätte es auch Widerstand gegeben. Widerstand und Nazis und nichts dazwischen? Ich mache mich auf diese Diskussion gefasst, aber es herrscht einen Moment Stille.
„Ich weiß es nicht.“ Dann springt er in die Zukunft eines Post-War-Szenarios. „Ich wäre froh, wenn Israel dort für Ruhe sorgt. Aber vielleicht wird es eine Art wilde, global agierende Einheit geben. Wir sahen ja, was passiert ist, als wir denen in Gaza die Schlüssel gegeben haben.“ Wer ist „denen“?
„Denen, der Hamas.“ Sagt, er habe „kein Problem mit den Zivilisten – aber ich war in Gaza drei Monate stationiert. Es beginnt in einem frühen Alter, das ist Erziehungssache! Sie schauen in der Schule auf Karten, da existiert Israel nicht. Sie sehen Fotos von Israelis, die schlimme Dinge machen.“ Das sei das Mind Set, das etabliert worden sei. Wenn man das ändern wolle, dann „vom Grund des Grundes auf“.
„Alles, was ich will, ist friedlich leben, aber wir können es nicht, wenn wir es nicht weiter vorantreiben, bis sie ihre Lektion gelernt haben.“
Er ist jetzt wieder aufrecht, die MG wie ein übergroßes Zepter.
Wiederaufbau im Kibbuz, nicht in Gaza
Hat die Hamas ihre Lektion gelernt nach dem Tod ihrer Anführer? Können Menschen in Gaza nach Netanjahus Kriegsführung, nach einem Friedensabkommen – egal welcher Art – Geschichte neu lernen? Wie tief geht der Grund des Grundes und endet er wieder im Sandkasten mit der Frage, wer wem zuerst die Schippe weggenommen hat oder im sumpfigen Urschleim der Religion?
„Und was machst du jetzt hier genau in der Zwischenzeit?“
„Wir sind hier, um das Kibbuz wieder instand zu setzen. Und bei der Saat zu helfen.“
Wieso habe ich versäumt zu fragen, ob er das irgendwann auch in Gaza tun würde? Nicht, um neue Siedlungen dort zu bauen, sondern für die Zivilbevölkerung in Gaza.
Wir fahren weiter.
„Was hattest Du denen denn gesagt, auf welcher Seite ich bin?“, frage ich Udi.
„Dass du gute Freunde in Gaza hast, aber ansonsten ,total zu uns stehst‘.“
Immer noch weigere ich mich, Seiten zu sehen. Ich stehe zu niemandem total. Ich bin hier, um mit möglichst vielen Menschen zu reden, mit allen Seiten, die dazugehören oder dazugehören sollten.
Miriam Sachs ist Theatermacherin und Autorin. Ihr Debüt-Roman Reise nach Jerusalem oder 141 Tage Warten auf Grünstein erschien 2005 bei Edition Nautilus. Aktuell reist sie mehrere Wochen durch Israel, um mit den Menschen über den 7. Oktober zu sprechen. Ihre Erfahrungen und die Gespräche veröffentlicht sie im Tagebuchformat auf ihrem Blog.