Israel-Tagebuch: „Es erwacht Hoffnung, dass es zum Ende dieses Krieges kommt“
Es kann dich mitten am Tag treffen. In der Gärtnerei, während du eine Pflanze für die neue Wohnung kaufen willst. Wo versteckt man sich in einer Gärtnerei vor Raketen? Hinter den Kakteen? Du rennst den anderen Menschen nach, die aus der Gärtnerei rennen. Wohin sie rennen, weißt du nicht. Anscheinend wissen sie es. Die Sirene des Raketenalarms schrillt, und du rennst den anderen rennenden Menschen hinterher, zu einem Bunker. Der kommt dir ein bisschen bekannt vor. Und dann sehr bekannt.
Tatsächlich hast du hier einmal gewohnt. Vor vielen Jahren. Eine schöne Zeit, sorglos. In einem Mietshaus mit Blick auf die Felder. Du gehst die Stufen des Bunkers hinab, tief in die Erde hinein, und triffst dort auf deine einstigen Nachbarn. „Was machst du denn hier?“, wundern sie sich, „Wohnst du wieder in der Nachbarschaft?“ „Nein“, erklärst du, „Es gab Luftalarm. Da bin ich hergerannt.“ Nach gut einer Minute verkündet einer, dessen Handy noch funktioniert: „Die Rakete kommt aus dem Jemen!“ Und du weißt bereits: Die meisten Raketen aus dem Jemen können noch in der Luft abgeschossen werden, gefährlich sind die vom Himmel fallenden Trümmerstücke.
Auf diese Weise ist letzte Woche ein Mann umgekommen, der auf der Straße fuhr, auf der auch du zur Arbeit fährst. Was haben die Huthis im Jemen gegen Israel? Du hast es noch immer nicht verstanden. Was haben die Schiiten im Irak gegen Israel? Und was will die Hisbollah eigentlich von Israel, außer es auszulöschen? Aber zugleich kannst du auch die langfristige Strategie deiner Regierung nicht verstehen. Vielleicht gibt es gar keine?
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Es kann dich mitten in der Nacht treffen. Wach auf. Los. Keine Zeit verlieren. Ab dem Moment, in dem die Sirene losgeht, hat man zwei Minuten, bis die Rakete einschlägt. Plötzlich bemerkst du, dass du mit dem T-Shirt von den Demonstrationen schlafen gegangen bist. Du bist dir nicht sicher, ob alle Nachbarn in dem neuen Haus deine politischen Meinungen teilen. Also ziehst du schnell ein neutrales T-Shirt an, läufst zu den Zimmern deiner Töchter, gehst sicher, dass alle wach geworden sind. Und rennst mit ihnen die Treppen nach unten, in den Gemeinschaftsbunker des Hauses.
Ihr seid erst vor kurzem hier eingezogen, deshalb triffst du hier manche der Nachbarn das erste Mal, im Schutzraum unter der Erde: „Hallo, schön, Sie kennenzulernen. Wir sind die neuen Nachbarn. Schade, dass wir uns unter diesen Umständen treffen.“ In den kommenden Nächten fällt dir auf, dass der geschiedene Mann aus dem zweiten Stock jedes Mal mit einer anderen Frau in den Bunker kommt. Dass das Paar aus dem dritten Stock zwar mit den Kindern auf Hebräisch spricht, untereinander aber auf Französisch. Und dass sie auf Französisch viel besorgter klingen. Dir fällt auf, dass die Familie aus dem Dachgeschoss den alten Großvater während der Sirene oben in der Wohnung gelassen hat.
Er ist physisch nicht mehr in der Lage, zum Bunker hinunterzugehen. Also versuchen sie, ihn über das Telefon zu beruhigen, ihre Stimmen zerfressen vor Schuld. Sonst ist es ruhig im Bunker. Niemand schreit, niemand wird krank vor Angst. Auf dem Boden liegen Matratzen bereit, aber niemand legt sich darauf. Alle warten geduldig auf das Ende der zehn Minuten, die man abwarten muss, bis der Beschuss vorbei ist. Und dann gehen alle zurück in ihre Wohnungen. Nur das Baby des Pärchens aus dem ersten Stock weint ununterbrochen, als wolle es alle daran erinnern, dass das, was hier passiert, nicht normal ist.
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Es kann dich mitten während eines Friseurtermins treffen. Gerade wurde dir eine Kopfhälfte rasiert – da beginnt die Sirene. Du, der Friseur und zwei Frauen mit Alufolie und Haarfarbe auf den Köpfen rennen zum nächsten Bunker. Es ist ein großer, städtischer Bunker an einer Hauptstraße. Hunderte von Menschen drängen sich hinein. Mädchen mit Hotpants, Ultraorthodoxe, Männer mit Kippa, arabische Arbeiter, und zwischen all diesen Menschen – ausgerechnet jetzt – auch die Frau, die einst deine große Liebe war. Während des Studiums. „Was machst du hier?“, fragt sie. „Ich wohne hier“, antwortest du, „Und du, was machst du hier? Wohnst du etwa in meiner Stadt und ich wusste es nicht?“ „Nein“, erklärt sie, „Ich hatte hier einen Arzttermin.“
Ihr unterhaltet euch ein wenig. Smalltalk. Zwischen euch gab es immer diesen gewissen Rhythmus im Sprechen, einen Beat. Er ist noch immer da, der Beat. Noch immer wirft sie ihre Locken von der einen Schulterseite zur anderen, mit einer schwungvollen Bewegung. Noch immer bringt sie deine Lachgrübchen zum Vorschein, und du ihre. Und wenn sie blinzelt, öffnet sich ihr rechtes Augenlied noch immer langsamer als das andere, was den Eindruck erweckt, sie würde zwinkern. Als die Zehn-Minuten-die-man-abwarten-muss vorbei sind, verabschiedet ihr euch mit einer etwas zu langen Umarmung, aber macht euch nichts weiter vor und verzichtet auf das geheuchelte „Lass uns irgendwann auf einen Kaffee treffen“.
Erst als sie aus deinem Blickfeld verschwunden ist, wird dir bewusst: Die Hälfte deines Kopfs ist rasiert. Die andere nicht. Wie ein Clown. So hat sie dich gesehen, nach all den Jahren.
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Deine Eltern leben im Norden des Landes, in Haifa. Dort ist nicht nur ein paar Mal am Tag, sondern mehrmals die Stunde Raketenalarm. Dein Vater hat Knieprobleme und schafft es deshalb nicht schnell genug bis zum Schutzraum. Die Explosionen der Raketen sind zu hören, noch bevor er ihn erreicht hat. Du bietest deinen Eltern an, für einige Zeit zu dir zu ziehen. Dort ist es sicherer. Sie sagen, dass sie darüber nachdenken würden, aber du weißt, dass sie es nicht tun. Auch wenn eine Rakete einen Meter entfernt von ihrem Haus einschlagen würde, würden sie sich keinen Millimeter von dort bewegen. „Dein Vater ist ein Sturkopf“, sagt deine Mutter. „Deine Mutter will in ihrem Bett schlafen“, sagt dein Vater. Nach jedem Raketenalarm schreibst du ihnen. Und sie schreiben dir. Und nicht nur ihr schreibt euch. Alle schreiben allen ununterbrochen in WhatsApp-Gruppen: „Alles okay? Seid ihr unversehrt?“ Und man antwortet: „Ja.“
Obwohl das nicht stimmt. Will heißen, der Körper ist vielleicht unversehrt, aber die Seele ist es nicht. Die wird immer abgewetzter, ängstlicher, ausgelaugter. Wie lange kann man voller Anspannung auf den Schlag warten? Jedes vorbeirasende Motorrad, jede fräsende Bohrmaschine, alles erinnert an die Sirene des Raketenalarms, und du merkst, wie deine Töchter sich anspannen, um zum Bunker losrennen. Und dann erleichtert aufatmen. Sogar das Pfeifen des Windes kann sich manchmal wie eine Sirene anhören, und du fragst dich, ob diese Angst deine Töchter ihr ganzes lang Leben verfolgen wird. Wenn sie in Südamerika oder in Nepal oder sonst wo reisen. Wird jedes Geräusch, dass dem Raketenalarm ein wenig ähnelt, sie aufschrecken?
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Es kann dich mitten beim Schreiben deines Kriegstagebuchs treffen. Scheiße. Genau jetzt. Mitten im Satz. Du klickst auf „Speichern“ und spurtest zum Bunker. Es ist früher Morgen. Von den Nachbarn sind nur du und der geschiedene Mann da. Dieses Mal hat er seine Tochter statt einer Frau bei sich. Er erklärt, dass es in ihrer Schule keinen ausreichend großen Bunker für alle gäbe, also teilt man die Wochentage unter den Klassen auf. Mal gehe sie zur Schule. Mal sei sie zu Hause. „Zuerst Corona, jetzt das. Ihre Generation ist völlig am Arsch“, sagt er leise, während sie in ihrem Handy versunken ist.
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Es kann dich ein paar Tage später treffen, mitten in einer Radtour mit einem Freund. Auf den leeren Autobahnen von Jom Kippur. Wenn du dich nirgendwo in Schutz bringen kannst. Also legst du dich flach auf die Straße. Schützt den Kopf mit den Händen. Und betest. Dieses Mal ist die Explosion ganz nah zu hören. Nach ein paar Minuten heulen die Sirenen der Krankenwagen. Später erfährst du: Es war eine Drohne, die in ein nahegelegenes Altenheim eingeschlagen ist. Am nächsten Tag trifft eine Rakete das Haus, in dem du einen Vortrag hättest halten sollen. Glücklicherweise wurde er wegen der Sicherheitslage abgesagt.
Langsam erinnert dich die ganze Sache an ein Computerspiel, in dem die Spielfigur tödlichen Attacken ausweichen muss. Aber das hier ist kein Computerspiel, das hier ist jetzt dein Leben.
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Zwischen den Raketenalarmen lese ich Lyrik, um mir in Erinnerung zu rufen, dass ich Mensch bin. Das Gedicht, das der Dichter Lior Sternberg an seine einstige große Liebe schrieb, nachdem er sie zufällig auf der Straße getroffen hatte, endet so:
„Habe keine Worte
erwachsene Einsicht zu beweisen
keine Wut, keine Liebe
nur ein enthaltsames Herz
am selben unsichtbaren Faden
(Darf man es zugeben?)
das in der weichen Tiefe
noch immer hindrängt
zu deiner Melodie.“
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Während ich diese Zeilen schreibe, wird die Tötung des Hamasführers Yahya Sinwar in Gaza bekanntgegeben. Er war verantwortlich für das Massaker am siebten Oktober. Und diese Nachricht weckt die Hoffnung in mir (Darf man es zugeben?), dass das der Beginn des Kriegsendes sein wird, dass die Geiseln zurückkommen werden, dass wir nicht mehr in Bunker rennen müssen, dass ich dieses Tagebuch nicht mehr weiterschreiben muss. Dass dies hier seine letzten Zeilen sein werden. Und ich wieder Liebesgeschichten schreiben kann.
Eshkol Nevo lebt in Ra’anna bei Tel Aviv. Seit dem 7. Oktober 2023 führt er ein Tagebuch, dieser Text ist Teil davon. Sein aktueller Roman Trügerische Anziehung ist bei dtv erschienen auf Deutsch in der Übersetzung von Ulrike Harnisch