Israel | Eli Sharabi war 491 Tage Geisel dieser Hamas. Wie überlebt man denn „Faustpfand mit Puls“?

Als am Morgen des 7. Oktober 2023 bewaffnete Männer in das Haus seiner Familie eindringen, ahnt Eli Sharabi, was ihm blüht: „Ich bin mir sicher, dass sie mich entführen wollen, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.“ Seine Frau Lianne und seine Töchter Noiya und Yahel bleiben zurück. Für den damals 51-Jährigen beginnt ein Überlebenskampf, der über ein Jahr dauert. Genauer: 491 Tage, so der deutsche Titel seines Berichts.

Die Hamas hat die Geiseln immer wieder als Teil ihrer psychologischen und medialen Kriegsführung gegen Israel eingesetzt. Seien es die Videos aus den Tunneln, in denen die hungernden Menschen die israelische Regierung kritisieren mussten, seien es die grotesken Zeremonien bei den Freilassungen etwa im Januar und Februar dieses Jahres.

Umso wichtiger ist es, dass die Geiseln seit ihrer Freilassung ihre eigenen Geschichten erzählen. Die israelische Presse berichtet nahezu täglich über neue Details der unwürdigen und menschenverachtenden Umstände, unter denen die 250 Menschen, die am 7. Oktober entführt wurden, leben mussten – ob fünf Wochen oder gut zwei Jahre lang. Eli Sharabis Buch ist das erste Zeugnis dieser Art und ist in erstaunlicher Geschwindigkeit entstanden: Sharabi wurde im Februar dieses Jahres freigelassen, die hebräische Fassung des Buches erschien bereits im Juni.

7. Oktober 2023: Eli Sharabi fürchtete den Lynchmob in Gaza

Sharabi hat seit seiner Freilassung immer wieder über seine Zeit in Gaza gesprochen und sich für die noch verbleibenden Geiseln eingesetzt – sei es vor dem UN-Sicherheitsrat oder bei Markus Lanz. So nüchtern, offen und klar, wie er vor Kameras spricht, so ist auch sein Buch gehalten. Es erzählt die Ereignisse vom Morgen des 7. Oktober 2023 bis kurz nach seiner Freilassung.

So erfährt man etwas über den großen Rückhalt, den der 7. Oktober in der Bevölkerung von Gaza hatte: Als Sharabi dort ankommt, müssen ihn seine Entführer vor einem Lynchmob schützen. Diese Ambivalenz wird prägend für seine Beziehung zu den Entführern: Diejenigen, die ihm all das antun, sind auch diejenigen, die ihn schützen und am Leben halten – er ist ihnen vollkommen ausgeliefert. Ein „Faustpfand mit Puls“ nennt er sich.

Zunächst ist Sharabi mit einer Geisel aus Thailand im Haus einer Familie untergebracht – vielen Geiseln erging es so. Später wird er zusammen mit drei anderen Geiseln, Alon Ohel, Elia Cohen und Or Levy, in zwei verschiedenen Tunneln festgehalten – sein schlimmster Albtraum wird wahr. Kurzzeitig begegnet er auch Almog Sarusi, Ori Danino und Hersh Goldberg-Polin.

491 Tage in den Tunneln der Hamas: Die Geiseln treiben heimlich Sport

Anfangs ist die Versorgung in Ordnung, doch Sharabi schildert, wie die Lage sich zunehmend verschlechtert, wie er sich vor den israelischen Luftangriffen fürchtet und wie er sich immer wieder seinen Auftrag in Erinnerung ruft: zu überleben.

Denn dies ist eine Geschichte der Resilienz. Kurioserweise erinnert das mitunter an die Parolen der Selbsthilfe-Industrie, etwa wenn die Geiseln eine Abendrunde einführen, bei der sie jeden Tag eine Sache sagen, „die gut war“. Oder wenn Sharabi seine Mitgefangenen daran erinnert: Man hat immer eine Wahl. Zum Beispiel einen Fluchtversuch zu wagen, der den Tod zur Folge hätte. Jeder noch so kleine Handlungsspielraum zählt. Wir wählen, zu überleben.

Er lässt auch die Konflikte zwischen den Geiseln nicht aus, die unter der körperlichen Entbehrung und dem psychischen Druck unvermeidlich sind: Das Essen ist knapp, alles muss geteilt, organisiert und besprochen werden. Sharabi schildert dies ehrlich, aber respektvoll: Er stellt seine Mitgefangenen auch dann nicht bloß, wenn er ihr Verhalten missbilligt. Vielmehr bringt er für alle Verständnis auf. Als Ältester nimmt er eine väterliche Rolle an, vor allem für Alon.

Spitznamen Maske, Viereck, Trash: Die Hamas-Männer gut zu kennen, ist überlebenswichtig

Es ist eine Notgemeinschaft der Lebenswilligen: Die Geiseln treiben heimlich Sport, sie teilen das einzige Paar Schuhe, sie entwickeln Pläne, um ihren Bewachern etwas mehr Essen abzuluchsen – und sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten, begehen die Feiertage gemeinsam, beten, auch wenn die meisten von ihnen vorher nicht sonderlich religiös waren.

Besonders bemerkenswert ist, wie Sharabi den Umgang mit den Geiselnehmern schildert. Sie bekommen alle Spitznamen: Maske, Ausputzer, Dreieck, Viereck, Kreis, Trash oder Garbage. Sie möglichst gut zu kennen, ist überlebenswichtig, da es den Unterschied zwischen einem Pita-Brot mehr oder einer Demütigung mehr machen kann. Die Geiseln wissen: Die Hamas hat ein Interesse daran, dass sie leben. Aber auch, dass sie nicht zögern würde, sie auf Befehl zu erschießen.

Vor allem anfangs kommt es sogar zu kleinen Momenten der Verbrüderung. Sharabis Bewacher reden ihm zu, das alles sei bald vorbei, es werde einen Deal geben und er könne nach Hause gehen. Doch je länger der Krieg anhält, desto rauer und brutaler werden die Terroristen. Ihren Frust und ihre Verzweiflung lassen sie an den Geiseln aus, verhöhnen sie, behaupten, Israel habe sie vergessen oder sei unter den Angriffen der Huthis, der Hisbollah und des Irans kollabiert. Sie bestrafen sie mit noch weniger Nahrung, während sie selbst sich aus vollen UN-Hilfsgüterkisten bedienen. Die Geiseln bekommen monatelang nur trockene, oft vergammelte Pita-Brote. Sie werden krank und schwach und liegen in einem von Würmern befallenen, dunklen, feuchten, stinkenden Tunnel. Einmal wird Sharabi schwer verprügelt, danach bekommt er lediglich etwas Schmerzmittel.

Eli Sharabi: „Jetzt, Leben“

Was die Lektüre schwer erträglich macht, ist, dass man das Schicksal aller Genannten kennt – im Gegensatz zu Eli Sharabi, der erst am Ende seiner Gefangenschaft erfährt, dass nicht nur sein Bruder Yossi in Geiselhaft starb, sondern auch Almog Sarusi, Hersh Goldberg-Polin und Ori Danino. Sie gehörten zu jenen sechs Geiseln, die im August 2024 von der Hamas hingerichtet wurden. Vor allem weiß man als Leser aber, was Sharabi erst nach seiner Freilassung erfährt: Seine Frau und seine beiden Töchter, an die zu denken ihm so viel Kraft gegeben hat, wurden am 7. Oktober ermordet. Das letzte Kapitel erzählt von seinem Besuch an ihren Gräbern: „Das hier ist der Tiefpunkt. Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn berührt. Jetzt, Leben.“

Eli Sharabi wählt einen direkten Stil, der eine umso stärkere emotionale Kraft erzeugt. Er schildert nüchtern, ohne Pathos oder drastische Urteile. Es geht ihm nicht darum, ein politisches Pamphlet vorzulegen. Es geht ihm darum, Zeugnis abzulegen. Man muss dieses Buch also auch in der Tradition der jüdischen Zeugnisliteratur sehen. Es ist ein eindrückliches Buch von zugleich erstaunlichem literarischen Gehalt. Die Kraft, derer es bedarf, ein solches Buch zu schreiben, kann man kaum ermessen.