Interna aus HKW-Literaturpreis-Jury: „Das Ende des Anstands“
Als ich anfing, in Literaturjurys zu arbeiten, wurden sie von den Kritikern der Generation dominiert, die 1968 auf der einen oder anderen Seite erlebt hatten. Damals verstand ich schnell, dass Juryarbeit besondere Kompetenzen erfordert. Staunend erlebte ich, wie zum Ende einer Sitzung einer der Herren seinen Kandidaten durchgesetzt hatte, obwohl von ihm während der Diskussion kaum die Rede gewesen war. Während ich meine Karten sofort auf den Tisch gelegt hatte, hielten diese erfahreneren Jury-Kollegen ihr Blatt verdeckt und spielten gezinkte Karten oder auch echte Asse erst am Schluss aus. Die hohe Kunst und ganz offenkundig auch ein großes Vergnügen für die siegreichen Kritiker.
Eine andere Erfahrung – und die wurde mein Maßstab für zukünftige Jurys – machte ich in der Arbeit für den Peter-Huchel-Preis, der einmal im Jahr den besten Lyrik-Band auszeichnet: Sieben Juror*innen, die mehrere Jahre zusammenarbeiten, diskutierten drei Tage lang miteinander, um eine Entscheidung zu treffen. In diesen Diskussionen ging es nicht darum, wessen Kandidat*innen sich durchsetzen, sondern um die Frage, was das eigentlich ist: ein guter Gedichtband. Es waren aufregende Gespräche, auch aufreibende, weil unterschiedliche Sichtweisen aufeinandertrafen und die Jury ihre Kriterien an den Texten diskutierte und entwickelte.
Mehr als nur ein Verstoß gegen die Verschwiegenheitsabmachung
Selten aber gelangen solche Gespräche an die Öffentlichkeit. Seit drei Tagen nun steht ein schwerer Vorwurf im Raum. Die Autorin Ronya Othmann – von mir einmal zu den Bachmanntagen eingeladen und dort auch ausgezeichnet – und die Autorin und Kritikerin Juliane Liebert haben einen Artikel in der Zeit geschrieben, in dem sie kurz vor Veröffentlichung der diesjährigen Shortlist des Internationalen Literaturpreises am HKW, interne Vorgänge der Jurydiskussion und der Entscheidung aus dem letzten Jahr offengelegt haben. Das ist mehr als nur ein Verstoß gegen die Verschwiegenheitsabmachung, die jede Jurorin unterschreibt. Es ist ein diffamierender, stilistisch sich selbst verratender Artikel, der bereits durch den Zeitpunkt seiner Veröffentlichung markiert, dass er beschädigen möchte: Mohammed Mbougar Saar, den letztjährigen Preisträger. Die Juror*innen. Das HKW. Das diesjährige Preisverfahren.
In ersten Reaktionen werden die zitierten Äußerungen wie schriftliche Belege behandelt. Und auch die Zeit hat das offenbar getan, denn die Zitate wurden nicht, wie journalistisch redlich und üblich, überprüft. Stilistisch stellt sich mindestens die Frage, ob diese Worte so gefallen sein können. Das Perfide an diese offenbar um sich greifenden Praxis, erinnerte mündliche Aussagen von Anderen wie schriftliche Quellen zu behandeln, ist: Die Diffamierten können sich nicht wehren. Man hält ihnen entgegen: Doch, das habt ihr so gesagt, wir erinnern uns daran. Und das bleibt hängen, selbst wenn die Aussagen frei erfunden oder rhetorisch zugespitzt wurden.
Außerdem: Dass die Arbeit von Jurys in der Regel nicht-öffentlich stattfindet, ist keine blöde Konvention, sondern eine Notwendigkeit. Nicht nur für die Arbeit von Kritiker*innen, sondern auch für eine Gesellschaft, die Regeln braucht, auf die sich alle verlassen können. Jury-Mitglieder können nur frei diskutieren, auch über Kriterien, wenn sie darauf vertrauen können, dass von diesen Diskussionen nichts nach außen dringt. Jury-Mitglieder sollten im Übrigen auch in der Lage sein, diese Diskussionen um Kriterien intern miteinander zu führen.
Juliane Liebert und Ronya Othmann haben sich entschieden, die Absprache, auf deren Grundlage die Jurydiskussion stattgefunden hat, zu missachten. Sie haben sich dafür entschieden, ihre Kolleg*innen zu diffamieren, die zwar nicht namentlich genannt werden, aber durch sprachliche Setzungen wie selektives Gendern leicht zu erkennen sind. Die Anonymisierung der Namen ist bloße Geste. Was aber ist den beiden so wichtig, dass sie die geltenden Verabredungen außer Acht lassen?
Die Funktion von Literaturpreisen
Nun, die Politisierung der Literaturkritik. Sie schnürt der reinen Literatur und ihrer Kritik die Luft ab, nicht die ökonomischen Bedingungen ihrer Produktion, nicht das marode Bildungssystem. Was daran stimmt: Es wird, seit wieder ein Generationenwechsel ansteht und Mitsprache und Mitbestimmung eingefordert werden, polarisierend um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, über Veröffentlichungsgebote und -verbote, über Moral und Amoral, über Ästhetik und Ethik diskutiert. Die Diskussion an sich gibt es schon immer, sie hört nie auf. Die Argumente sind die alten. Nur die Zusammensetzung der Lager und ihre gesellschaftspolitischen Kontexte ändern sich.
Lassen wir die Frage beiseite, ob es die „reine“ Ästhetik gibt, ob es also auch Jurys gibt, die nach total objektiven und also auch feststehenden, abhakbaren „rein“ ästhetischen Kriterien ihre Entscheidungen treffen (was Liebert und Othmann „literarisch“ nennen) oder ob es nicht die erstens anspruchsvollere und zweitens auch vergnüglichere Aufgabe der Literaturkritik ist, diese Kriterien selbstkritisch immer wieder neu miteinander und am Text zu entwickeln, gesellschaftliche Entwicklungen dabei immer mit im Blick. Fragen wir lieber danach, ob es eine andere Sicht auf Kontext und Funktion von Literaturpreisen gibt als die von Liebert und Othmann suggerierte Suche nach dem Gral, dem literarisch besten Buch.
Mir ist bewusst, wenn ich in Jurys arbeite, dass es eine Möglichkeit ist, für Sichtbarkeit zu sorgen und die Aufmerksamkeit auf Bücher, Autor*innen, Schreibweisen, Fragestellungen zu lenken, die im Haifischbecken des Marktes mit seinen Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie unterzugehen drohen, aber möglicherweise dem Publikum nicht vorenthalten werden sollten. Literaturpreise sind nicht nur Marketinginstrumente, sie haben immer auch eine literaturpolitische Funktion. Der sollte man sich bewusst sein und jede Jury sollte diskutieren, wie sie diese versteht und sich dann im Idealfall in einer Mehrheitsentscheidung auch einigen.
In dem Jahr, bevor ich Vorsitzende der Jury für den Leipziger Buchpreis wurde, gab es aus Anlass der Preisentscheidung Kritik an der Besetzung von Literaturjurys. Unabhängig davon, ob man der Kritik an der damaligen Leipziger Preisentscheidung zustimmt – damals wurden eben nicht interne Diskussionen veröffentlicht und die Jury schwieg deswegen auch zu den Vorgängen – ist ziemlich offenkundig, dass der Finger in eine Wunde gelegt wurde. Um das einzusehen, muss man sich nur die bisherigen Preislisten und Juryzusammensetzungen ansehen, die lange Jahre „weiß“ und „männlich“ dominiert waren. Beispiel: In über 70 Jahren Büchner-Preis wurden zwölf Frauen ausgezeichnet. Schauen Sie die Listen durch, ab wann „nicht-weiße“ deutschsprachige Autor*innen auftauchen und fragen Sie sich nach den Gründen.
Ohne Sigrid Löffler alles „Frauenliteratur“
Der Literaturbetrieb, vor allem die Literaturkritik mit ihren zunehmend prekären ökonomischen Bedingungen, hat im Schneckentempo nachvollzogen, was in der Gesellschaft und auch unter den Autor*innen des deutschsprachigen Raums schon Realität war: eine gewisse Diversität in den Entscheidungspositionen. Ich habe im Geschichtsunterricht in der 7. Klasse vom sehr alten, sehr weißen Lehrer, dem Direktor der Schule, spontan mündlich eine 2+ bekommen, als ich bei einer Quellenanalyse sagte, dass es aber doch ein Bischoff sei, der da schreibe, ob das denn eine Rolle spiele. Dass der Lehrer das wichtig fand, hat mich überrascht, und er hat dafür gesorgt, dass ich es mir gemerkt habe. Ich habe später an der Uni gelernt, dass es erkenntnisfördernd ist, bei einer Gedichtanalyse zu fragen: Von wo spricht das lyrische Ich? Und ich habe noch viel später bemerken müssen, wie ich bemerkenswerte literarische Werke und Autor*innen nicht wahrgenommen habe, weil sie nicht dem entsprachen, was ich bislang unter „literarischer Qualität“ verstanden habe.
Hier in einen Prozess der kritischen Selbstbefragung einzutreten, bedeutet leider auch, im ganz normalen Alltag und im ganz normalen Literaturbetrieb zu lernen, machtpolitische Strukturen wahrzunehmen. Mit anderen Worten – und viele Leserinnen werden das aus den Versuchen der Frauenbewegungen kennen – Strukturen zu verändern. Ohne Sigrid Löffler beispielsweise wäre es beim Label „Frauenliteratur“ in Bezug auf Autorinnen wie Marlene Streeruwitz geblieben. Es ergibt also Sinn, in Literaturjurys zu überprüfen, ob man Sichtbarkeit auf bereits durchgesetzte bemerkenswerte Autor*innen lenken möchte oder auf bemerkenswerte Autor*innen, die das Publikum noch entdecken sollte – und dies dann auch literarisch zu begründen. Offenkundig hat das die Jury des HKW getan.
Es ist eine Illusion, zu glauben, Jurys, die behaupten, rein „literarisch“ zu urteilen, würden keine Literaturpolitik betreiben. Von Kompetenz und Anstand, von professionellem Verhalten und Verantwortungsgefühl als Kritikerinnen zeugt das Verhalten von Othmann und Liebert und übrigens auch der Zeit-Redaktion nicht.
Es hat eine gewisse Ironie, dass Othmann und Liebert die Politisierung von Literaturjurys kritisieren, zugleich aber mit dieser Kritik so überdeutlich Politik machen. Auch in eigener Sache. Denn jedes Risiko des Regelbruchs, bringt denen, die mit den Regeln brechen (Autor*innen und Redaktionen) auch ökonomisches und kulturelles Kapital ein. Traurig an der Sache ist, dass es gerade so notwendig wäre, auch in öffentlichen Auseinandersetzungen ein Vertrauen wieder herzustellen. Zum Beispiel, um sachliche und nicht nur skandalisierende Diskussionen zu ermöglichen, auch über die Frage, welche Autor*innen und welche Literatur gerade aus welchen Gründen kein Gehör finden und was das für die literarische Landschaft und unsere Gesellschaft bedeutet und über ihre Institutionen aussagt. Man kann das ohne Vertrags- und Vertrauensbrüche tun und ohne Autor*innen, Übersetzer*innen, Kolleg*innen und einen wichtigen Literaturpreis zu beschädigen. Mehr noch: Die Redaktion hätte in der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation erkennen können, dass ein solcher Vorgang das Klima öffentlicher Debatten weiter vergiftet. Dieser Fall ist nicht nur einer der Kulturszene. Er ist einer der demokratischen Gesellschaft und ein fundamentales medienethisches Versagen.