Integration | Hanau-Überlebender: „Menschen starben, weil sie dem Täter nicht ins Stadtbild passten“

Als ich schrieb: „Ich bin das Stadtbild, vor dem Merz warnt“, war das kein einfacher Spruch. Es war eine Reaktion. Auf einen Satz, der für viele nur ein politischer Fehlgriff war – für mich aber ein Déjà-vu.

Ich komme aus Hanau.

Neun Menschen wurden dort am 19. Februar 2020 ermordet, weil sie nach Auffassung des Täters nicht in das Stadtbild passten. Weil sie nicht als Teil dieses Landes gesehen wurden. Weil sie nicht in das rassistische Weltbild des Täters passten.

Politische Gewalt entsteht nicht im luftleeren Raum. Ihr gehen Diskurse voraus, die ein Klima erzeugen, das Hass und Gewalt begünstigt. Diskurse, die Trennlinien aufzeigen. Und die Menschen unterteilen. Was zunächst wie eine missglückte Formulierung wirkt, prägt den gesellschaftlichen Blick auf Menschen. Aus Worten werden Taten.

Ich habe Kindheitsfreunde und meinen kleinen Bruder verloren. Ich weiß, was es bedeutet, wenn ich sage: Sprache schafft Realität. Deshalb höre ich genau hin, wenn Politiker über „das Stadtbild“ sprechen. Dahinter verbirgt sich nicht der Anspruch, stärker in die öffentliche Daseinsvorsorge zu investieren, Häuser zu sanieren, Armut zu bekämpfen oder Kriminalität zu reduzieren. All das hätte der Bundeskanzler tun können. Und viele Menschen hätten zugestimmt.

Vielfalt ist Normalität

Hinter dieser Aussage verbarg sich der Anspruch, dass Menschen wie ich und Millionen weitere nicht auf diese Straßen gehören. Dass wir hier unerwünscht sind. Wir leben in einem Deutschland, das längst anders aussieht, als manche es gerne hätten. In meinem Umfeld arbeiten Menschen aus vielen Ländern, Kinder sprechen mehrere Sprachen, Nachbarn feiern Feste, die sich mischen. Das ist kein Problem. Das ist Realität. Und trotzdem reden viele Politiker noch so, als müsse man dieses Land vor sich selbst schützen. Als wäre Vielfalt eine Bedrohung und nicht längst Normalität.

Diese Politik schafft es nicht, Debatten über gesellschaftliche Missstände zu führen, ohne ganze Gruppen dafür in Mithaftung zu nehmen. Ohne diese Probleme zu migrantisieren. Von der viel zu schlechten Taktung des ÖPNV in vielen Kommunen und Gemeinden über marode Schulen und Sanierungsstau bis hin zu defizitärer öffentlicher Infrastruktur: All diese Probleme werden auf das bloße Dasein von Migrant*innen und Migration reduziert.

Ich sage es deutlich: Ihr habt es nicht verstanden. Mit „ihr“ meine ich den Bundeskanzler und all jene, die glauben, sie könnten die Narrative der Rechtspopulisten übernehmen; all jene, die meinen, sie könnten Politik auf dem Rücken vieler Millionen Menschen machen und sie gegeneinander ausspielen.

Worte prägen das Denken

Es geht nicht darum, Probleme zu leugnen. Natürlich gibt es sie. Aber es geht darum, wie man über sie redet – und wer dabei mitgemeint ist. Es geht darum, Debatten zu führen, ohne jedes Mal Millionen von Menschen dafür in Mithaftung zu nehmen. Ich erinnere den Bundeskanzler an seine Verantwortung. Wer dieses Land führt, muss verstehen, was es geworden ist.

Worte sind nicht nur Worte – sie prägen das Denken, das Handeln, das Klima in diesem Land. Wer in einer Gesellschaft Verantwortung trägt, darf Sprache nicht als Werkzeug der Angst benutzen.

Ich sehe jeden Tag, dass dieses Land funktioniert – trotz aller Unterschiede. Ich sehe, wie Menschen zusammenarbeiten, sich gegenseitig helfen, füreinander da sind. Ich sehe junge Menschen, die sich nicht fragen, wo jemand herkommt, sondern wohin sie gemeinsam wollen.

Das ist das Deutschland, das ich kenne.

Aber zu oft hat man das Gefühl, die Politik beschreibt ein anderes. Eines, das es vielleicht früher gab – oder nur noch in Köpfen, die Angst vor Veränderung haben.

Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft

Ich könnte an dieser Stelle aufzählen, dass ich hier geboren bin, Steuern zahle, Bürger dieses Landes bin. Das mag auch alles stimmen. Dennoch: Selbst wenn ich all das nicht wäre, darf sich die Achtung vor Menschen in diesem Land nicht an deren wirtschaftlichem Nutzen bemessen. Die Würde des Menschen zu achten, ist Pflicht aller staatlichen Institutionen. Das sollte auch der Bundeskanzler verinnerlichen.

Ich wünsche mir ein Deutschland, das sich endlich traut, ehrlich in den Spiegel zu schauen. Ein Land, das versteht, dass es an einem Wendepunkt steht und jetzt zu entscheiden hat: In welche Richtung soll es gehen? Ein Land, das sich selbst so sieht, wie es ist – vielfältig, laut, widersprüchlich, lebendig. Nicht perfekt, aber echt.

Ich bin das Stadtbild, vor dem Merz warnt. Ich will, dass Deutschland endlich den Mut hat, sich zu dem zu bekennen, was es ist: eine Einwanderungsgesellschaft. Und dass die Politik sich dazu bekennt, diese Einwanderungsgesellschaft konstruktiv zu gestalten, statt sie zu bekämpfen.

Said Etris Hashemi verlor durch den rassistisch motivierten Terroranschlag in Hanau seinen jüngeren Bruder Said Nesar und viele seiner Kindheitsfreunde. Er selbst überlebte schwer verletzt