Insel im Ärmelkanal: Jersey bietet subtropisches Klima und französische Kochstube – WELT

Die britische Kanalinsel ist ein in vielerlei Hinsicht besonderer Geheimtipp: Sie ist deutlich wärmer, als man es erwarten sollte. Sie wandelt ihr Gesicht je nach dem Stand der Gezeiten. Und beim Essen ist Frankreichs Einfluss unverkennbar.

Schon die Ankunft ist ein Abenteuer: Die Landebahn des Flughafens ist kurz, es gibt kaum Platz zum Bremsen und Ausrollen. Deshalb knallen die Piloten ihre Maschinen mit so viel Schwung auf die allerersten Meter der Betonpiste, dass bisweilen alles nicht Niet-und-Nagelfeste durch die Kabine fliegt. Das ist in aller Regel nicht gefährlich. Aber es ist ein erster Hinweis darauf, dass Jersey eine eigenartige Insel ist.

Jersey ist mit 120 Quadratkilometern die größte der britischen Ärmelkanal-Inseln (wobei es offiziell gar nicht zu Großbritannien gehört, dazu gleich mehr), gelegen in der Bucht von Saint Malo, etwa 25 Kilometer vor der französischen Küste. Von Neandertaler-Überbleibseln bis zu Nazi-Bunkern gibt es hier Reste von mehr als 100.000 Jahren Geschichte zu besichtigen.

Zu den Eigenarten zählt auch die atemberaubende Natur: Es gibt zig Quadratkilometer Wattenmeer mit uralten Wachtürmen, in denen man sogar übernachten kann. Es sprießen Palmen und eine subtropische Flora, obwohl Jersey bekanntlich nicht im Mittelmeer liegt. Das hat das Eiland dem Golfstrom zu verdanken, er sorgt für milde Temperaturen – und zwar das ganze Jahr hindurch. Bis weit in den November hinein klettert das Thermometer im Schnitt auf zehn bis 17 Grad. Nachtfrost ist hier unbekannt, auch in den Wintermonaten, was die Insel zu einem Ganzjahresziel macht.

Ein besonders eigenartiges Naturschauspiel ist der Tidenhub: Er beträgt zwölf Meter, es gibt nur wenige Orte auf der Welt, an denen der Unterschied zwischen den Gezeiten noch krasser ausfällt. Bei Ebbe zieht sich das Wasser so weit zurück, dass sich die Fläche der Insel quasi verdoppelt und ein schier endloses Watt sichtbar wird. Dann werden die Strände breit und weiß, die Schiffe im Hafen rutschen an ihren haushohen Pollern nach unten aufs Trockene, und die Fischer fahren mit dem Trecker zu den Austern- und Muschelbänken weit draußen, um sich um ihre Meeresfrüchte zu kümmern.

Ein Mix aus England und Frankreich

Eine Wanderung auf dem Meeresgrund ist deshalb eines der ersten Dinge, die man auf Jersey unternehmen sollte. Bis zu einer Stunde kann man über die unwirkliche Landschaft des freigelegten Wattbodens hinausstapfen und sich Muscheln, Krebse, Wattwürmer und vieles mehr erklären lassen, bevor die Flut zum Umkehren zwingt.

Ab und zu kommt man dabei an hohen Metallgestellen vorbei – das sind Rettungstürme, auf die sich flüchten kann, wer die Zeit vergessen hat und vom Wasser überrascht wird. Beim Wattwandern kann man auch Elizabeth Castle besuchen, ein Fort auf einem Felseninselchen in der St. Aubin’s Bay, das nur bei Ebbe zu Fuß oder per Amphibienfahrzeug erreichbar ist.

Wie ihre Schwestern, die anderen Kanalinseln Guernsey, Alderney, Herm und Sark, ist Jersey ein wundervolles Gemisch aus französischer und britischer Kultur, wobei von den Franzosen fast nur noch Straßen- und Ortsnamen sowie, zum Glück, die Küche übrig sind. Im Jahr 1066 eroberte Wilhelm, Herzog der Normandie, England und wurde englischer König.

Britanniens Ländereien auf dem Festland kamen im Laufe der folgenden Jahrhunderte abhanden, die Kanalinseln aber verblieben im Besitz der normannischen Herzöge. Heute ist der Herzog der Normandie ein gewisser Charles III., in Personalunion König von England, und die Inseln gehören offiziell weder zu Großbritannien noch zu sonst einem Land, sondern sind als sogenannter „Kronbesitz“ direkt der Monarchie unterstellt.

Jersey hat eigenes Geld

Das bringt diverse Skurrilitäten mit sich. So war Jersey nie Teil der Europäischen Union und ist demzufolge auch nie aus der EU ausgetreten. Für die etwa 100.000 Einwohner hat sich mit dem Brexit also nicht wirklich viel geändert. Die Inseln haben eigene Parlamente, drucken ihr eigenes Geld, erheben eigene Steuern, haben eigene Gesetze und Verkehrsregeln – weichen aber, weil alles sonst zu nervig würde, nur selten von den britischen Bestimmungen ab; eine Ausnahme sind die äußerst niedrigen Steuersätze. Der Parlamentspräsident heißt Landvogt und ist gleichzeitig oberster Richter. Alles in allem also ein liebenswerter Zustand, der prima in einen Agatha-Christie-Roman passen würde.

Oder in einen von Rosamunde Pilcher, denn pilcheresk sieht es hier aus – idyllische Ortschaften in weitgehend unverbauter Landschaft, gespickt mit Palmen, Orchideen und Bananenstauden neben Nadelbäumen, Ginster und Rhododendren. Die Straßen verschwinden fast zwischen den riesigen Hecken links und rechts der Fahrbahn. Warum die Fahrbahnen fast überall so schmal sind, dass zwei Autos nicht konfliktfrei aneinander vorbei passen, weiß der Herrgott allein (oder vielleicht der Landvogt); zumindest trägt es zur Verkehrsberuhigung bei.

Eine weitere Eigenart sind die sogenannten Conway Towers, Wachtürme im oder am Meer, mit denen der britische Gouverneur Henry Conway im 18. Jahrhundert seine Watt-Insel vor einer französischen Invasion schützen wollte. In einigen davon kann man sogar übernachten, etwa im Seymour Tower von 1782, zwei Kilometer vor der Küste von La Rocque im äußersten Südosten.

Zunächst muss man bei Ebbe hierher wandern. Wenn die Flut kommt, sitzt man dann oben auf den granitenen Befestigungen, angelt, schaut in die Sterne oder schläft in einem der sechs Stockbetten. Als Toilette dient ein Müllsack. 1987 retteten sich sogar zwei Reiter mitsamt ihren Pferden in den Turm, weil sie im Nebel den Rückweg vom Watt zurück aufs sichere Land nicht mehr fanden. Wie sie die Tiere die steilen Steintreppen hinauf bekamen, ist nicht überliefert. Herunter wollten die Pferde auf jeden Fall erst wieder, nachdem mit Bulldozern eine Sandrampe errichtet worden war.

Spuren der deutschen Besetzung

Bei Flut verwandelt sich Jersey komplett. Die meisten Strände verschwinden, die Brandung donnert dann gegen die Klippen, besonders im Norden und Westen der Insel. Am beeindruckendsten ist dies bei La Corbière am Südwest-Zipfel. Dort steht der erste Stahlbeton-Leuchtturm Britanniens, erbaut 1873 auf einer Gezeiteninsel und nur bei Ebbe über einen Zufahrtsweg erreichbar. Das Kap ist so sturmumtost, dass weder Bäume noch Sträucher wachsen.

Dafür wächst direkt am Kap ein weiterer Turm in den Himmel. In ihm kann man wohnen und einen fantastischen Rundumblick genießen – dieses Bauwerk allerdings ist eine deutsche Hinterlassenschaft. Am 30. Juni 1940 besetzten Soldaten der Wehrmacht die Kanalinseln, von denen kurz zuvor alle britischen Truppen abgezogen worden waren.

Die Deutschen blieben bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, stellten von Links- auf Rechtsverkehr um und bauten Bunker, Küstenbatterien und andere Befestigungsanlagen zur Verteidigung gegen eine Invasion, die aber nie kam: Am D-Day, dem Tag der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944, ließen die Alliierten die Kanalinseln einfach links liegen.

Überall auf Jersey finden sich Hinterlassenschaften der Nazis, von Zwangsarbeiterlagern bis hin zu besagtem siebenstöckigen Feuerleitturm bei La Corbière, der nun Radio Tower heißt und, eingerichtet im Bauhaus-Stil, an Touristen vermietet wird. In den Jersey War Tunnels nahe dem Städtchen Beaumont hat die Inselregierung ein Museum eingerichtet, in dem sich Besucher über die Zeit der deutschen Besatzung informieren können.

Kulinarisch nah an Frankreich

Zu Jerseys Pluspunkten zählt die Küche, die sich gut in Saint Helier erkunden lässt, der 1000 Jahre alten Hauptstadt: Obwohl sich die Insulaner als „fully British“ verstehen, ist die kulinarische Raffinesse des nahen Frankreichs unübersehbar. Zusammen mit den Einflüssen der Einwanderer (allein zehn Prozent der Einwohner haben portugiesische Wurzeln) und den regionaltypischen Zutaten ergibt sich ein fantastisches Gemisch. Ob im Pub „Lamplighter“ von 1877 oder dem Hotel „Pomme d’Or“, wo schon der Literat Victor Hugo abstieg – praktisch überall schmeckt die Inselkost hervorragend.

Besonders gut kann man im Central Market essen, einer historischen Markthalle mit schmiedeeisernen Säulen und etlichen Restaurants, Läden und Ständen. Eine frisch geerntete lokale Auster kostet hier umgerechnet weniger als einen Euro. Sehr stolz sind die Einheimischen übrigens auf die würzigen Jersey Royals, mit Seetang gedüngte Frühkartoffeln, sowie auf ihre Kühe. Für Letztere haben sie in Saint Helier sogar ein Denkmal errichtet. Deren Milch ist fetter als die anderer Kuhrassen, was dem Jersey Cheese eine besonders cremige, geschmackvolle Note beschert.

Ansonsten kann man auf Jersey Wandern. Oder Radfahren. Oder Schwimmen, wobei weder Wasser noch Strände unbedingt karibische Qualitäten haben. Oder in den Inselzoo gehen, den der Dandy und Naturforscher Gerald Durrell 1958 hier gegründet hat, und der sich auf seltene und gefährdete Tiere spezialisiert hat. Und wer im Herbst kommt, kann sich freuen, den Sommer verpasst zu haben: In der Hochsaison kann ein Zimmer schon einmal 300 bis 400 Euro kosten. Selbst für einen so schönen Flecken ist das etwas viel.

Tipps und Informationen

Wie kommt man hin?

British Airways bietet ganzjährig Flüge von verschiedenen deutschen Flughäfen mit Umstieg in London an. Wer nicht fliegen will, fährt mit dem Auto oder Zug bis Saint Malo in Frankreich (Zug bis Paris, weiter mit dem Superschnellzug TGV bis Saint Malo) und setzt von dort aus in rund 1,5 Stunden mit der Fähre über (condorferries.co.uk).

Wo wohnt man gut?

In der Inselhauptstadt Saint Helier etwa im Vier-Sterne-Hotel „Pomme d’Or“, in dem schon Victor Hugo wohnte, Doppelzimmer umgerechnet ab 100 Euro, seymourhotels.com/pomme-dor-hotel/. Etwas außerhalb von Saint Aubin mit tollem Blick über die Saint-Aubin-Bucht liegt das Boutiquehotel „Cristina“, Doppelzimmer ab 130 Euro, cristinajersey.com (Winterpause ab 19. Oktober).

Eine der schönsten Unterkünfte auf Jersey: das luxuriöse „Longueville Manor“ im Hinterland in Saint Saviour, das zu den Relais-&-Châteaux-Hotels zählt, mit Park, Rebhühnern und eigenem Gemüsegarten, Doppelzimmer ab 240 Euro, longuevillemanor.com. Stilvoll eingerichtet, großes Spa, direkt am Meer in Saint Brelade gelegen: „St. Brelade’s Bay Hotel“, Doppelzimmer ab 164 Euro, stbreladesbayhotel.com. Die historischen Wach- und andere Türme lassen sich über Jersey Heritage buchen, ab 20 Euro pro Person und Nacht, jerseyheritage.org/stay/heritage-lets/.

Weitere Infos

Visit Jersey: jersey.com; visitchannelislands.com

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Visit Jersey. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit

Source: welt.de