Indien: Kommt die dritte Amtszeit von Narendra Modi?

Sechs Wochen, sieben Phasen, 968 Millionen Wahlberechtigte: In Indien ist die größte demokratische Wahl der Welt zu Ende gegangen. Erste Auszählungen sehen den amtierenden Premierminister Narendra Modi vorn – doch weniger deutlich als erwartet. Mit seinem hindunationalistischen Kurs strebt er eine dritte Amtszeit an. Wie stehen die Chancen der Opposition? Und wie funktioniert so eine gigantische Wahl? Antworten auf die wichtigsten Fragen

Was zeigen erste Ergebnisse?

Die mehrwöchigen Parlamentswahlen in Indien sind am Samstag zu Ende gegangen. Drei Viertel der Stimmen sind bereits ausgezählt. Laut Wahlkommission gehen rund 38 Prozent davon an die hindunationalistische Partei Bharatiya Janata Party (BJP) von
Premierminister Narendra Modi – deutlich weniger als bei der letzten Wahl 2019. Bliebe es im Endergebnis bei diesem Wert, käme das NDA-Bündnis unter Führung der BJP auf mindestens 280 der 543 Parlamentssitze. Für eine Mehrheit nötig sind 272 Sitze.

Das Oppositionsbündnis mit dem Namen Indian National Developmental Inclusive Alliance (India) könnte Berichten zufolge deutlich stärker abschneiden als angenommen. Dabei ist von mehr als 200 Sitzen im Unterhaus die Rede.

Obwohl die Stimmen nicht ausgezählt waren, erklärte sich Modi, der seit 2014 im Amt ist, bereits
am Samstag zum Sieger. „Ich kann mit Zuversicht sagen, dass die
Menschen in Indien in Rekordzahl für die Wiederwahl der NDA-Regierung gestimmt haben“, schrieb er auf der Plattform X. 

Derzeit hat das NDA-Bündnis mit der BJP 352 Sitze inne, verfügte nach der Wahl vor fünf Jahren also über eine deutliche absolute Mehrheit. Die
größte Oppositionspartei, die Kongresspartei, hat derzeit 52 Sitze im
Parlament, gemeinsam mit ihrem aktuellen Bündnis sind es 91 Sitze. Um ihre
Chancen nun zu verbessern, ist die
Kongresspartei das India-Bündnis mit mehr als zwei Dutzend verschiedenen

Parteien eingegangen. 

Wichtigster
Oppositionskandidat ist Rahul Gandhi von der Kongresspartei, der nicht mit Mahatma Gandhi
verwandt ist. Rahul Gandhis Urgroßvater Jawaharlal Nehru war der erste
Ministerpräsident Indiens nach der Unabhängigkeit von Großbritannien
1947 und bislang der einzige, der drei Amtszeiten in Folge an der Macht
war.

Ziel der Kongresspartei ist es unter anderem, die demokratische und säkulare
Ordnung in Indien zu retten und verdrängten Bevölkerungsgruppen zu
helfen. „Es gibt keine Demokratie mehr in Indien“, sagte Gandhi
kürzlich.

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Wie wählen Hunderte Millionen Menschen in einem Land?

Ab Mitte April waren die Inderinnen und Inder zur Wahl eines neuen Unterhauses, des Lok Sabha, aufgerufen. 968 Millionen Menschen waren wahlberechtigt – das sind knapp zehn Prozent der Weltbevölkerung. Die Abstimmung dauerte sechs Wochen.

Aufgrund der immensen Größe des Landes wurden die Stimmabgaben in sieben Phasen unterteilt. In den 28 Bundesstaaten und in mehreren Unionsterritorien – Gebiete, die anders als die Bundesstaaten direkt der Zentralregierung in Neu-Delhi unterstehen – wurde also zu unterschiedlichen Zeitpunkten gewählt. So sollte ausreichend Sicherheit in den Wahllokalen gewährleistet werden. Die Wählerinnen und Wähler gaben ihre Stimme elektronisch per Knopfdruck ab. Teils mit Hubschraubern, Booten und sogar mit Elefanten mussten Millionen Helferinnen und Einsatzkräfte die Wahlurnen in alle Ecken des Landes bringen – vom Himalaja-Gebirge über Wüstenregionen und abgelegenen Hütten bis hin zu kleinen Inseln.

Zum indischen Parlament gehören neben dem Unterhaus außerdem das Oberhaus, also die Länderkammer, sowie der Präsident. Das Unterhaus besteht aus 545 Abgeordneten. 530 von ihnen werden aus den Bundesstaaten entsandt, die jeweilige Zahl richtet sich nach deren Größe. Der Rest kommt aus den Unionsterritorien. Das Oberhaus setzt sich aus 245 Abgeordneten zusammen, die fast alle von den Bundesstaaten, einige wenige auch vom Präsidenten ernannt werden.

Um regieren zu können, benötigt eine Partei oder eine Koalition eine absolute Mehrheit von 272 Sitzen. Der Spitzenkandidat der stärksten Partei oder Koalition wird in der Regel neuer Premierministers. Er wird formal von der Lok Sabha ins Amt gewählt.

In Indien finden alle fünf Jahre Wahlen statt. Bei der letzten Abstimmung 2019 lag die Wahlbeteiligung bei 67 Prozent – das war der höchste Wert, der bisher gemessen wurde. In diesem Jahr waren es ersten Berichten zufolge gut 66 Prozent.

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Warum gilt Narendra Modi als umstritten?

Der hindunationalistische Kurs Modis und seiner BJP zielt auf die Bevorteilung der hinduistischen Bevölkerung in Indien. Hindus machen rund 80 Prozent der 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner Indiens aus. 

Musliminnen und Muslime erfahren hingegen zunehmend Diskriminierung, während die BJP Kritik vonseiten der Minderheit zurückweist. In Indien leben mehr als 170 Millionen Muslime, das sind rund 15 Prozent der Bevölkerung. Ein Beispiel: Anfang des Jahres setzte Modi ein zentrales Versprechen seiner Partei um und weihte in der Pilgerstadt Ayodhya einen umstrittenen Hindutempel an einem Ort ein, an dem jahrhundertelang eine Moschee gestanden hatte. 

Mit einem weiteren Vorstoß sorgten Modi und die BJP auch international für Aufsehen: Er schlug vor, Indien möglicherweise in Bharat umbenennen zu wollen, um sich von dem aus der britischen Kolonialherrschaft stammenden Landesnamen Indien loszusagen. Bharat ist eine Bezeichnung des Landes aus dem Sanskrit. 

Interessant am aktuellen gesellschaftlichen Klima ist außerdem, dass von vielen inzwischen der Mörder Mahatma Gandhis verehrt wird – und nicht mehr Gandhi selbst, der sich stets für Toleranz zwischen den Religionen einsetzte.

Schon früh zeichnete sich Modis nationalistische Gesinnung ab. In jungen Jahren schloss er sich der radikal-hinduistischen RSS an, eine nach faschistischem Vorbild gegründete Freiwilligenorganisation, der er bis heute angehört. Modi begann, gegen Pakistan und gegen Muslime zu wettern und stieg in der RSS immer weiter auf.

Besonders umstritten sind heftige Unruhen im Jahr 2002 während seiner Amtszeit als Regierungschef des westindischen Bundesstaates Gujarat. Nach Auseinandersetzungen mit Muslimen verbrannten dort 59 Menschen in einem Zug, die meisten von ihnen hinduistische Pilger. Nach Bahnangaben hatte ein Unfall das Feuer ausgelöst. 

Nach dem Vorfall kam es im gesamten Bundesstaat zu Gewaltexzessen seitens radikaler Hindus vom RSS. Sie töteten schätzungsweise 2.000 Muslime. Frauen wurden vergewaltigt und Kinder verbrannt. Doch Modi ließ kaum eingreifen. Das sorgte sowohl in Indien als auch international für Kritik; Deutschland, Großbritannien und die USA verhängten ein Einreiseverbot gegen Modi. Doch angeklagt wurde er nie. Auch entschuldigt hat er sich bis heute nicht.

Vielmehr kam seine hindunationalistische Regierung in Gujarat zu dem Schluss, dass es sich bei dem Brand in dem Zug um eine Verschwörung und einen Anschlag durch Muslime gehandelt habe. 2018 wurden mehrere vorige Urteile, unter anderem wegen Mordes, aufgehoben. 17 Verurteilte kamen damals frei.

Heute gilt Modi als wichtiger Partner für die USA und Europa. Mit Indien will man in Europa die Abhängigkeit von China verringern. Umstrittene Haltungen Modis etwa gegenüber Russland oder sein Agieren als Regierungschef von Gujarat werden dafür in Kauf genommen.

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Was versprechen Modi und seine BJP?

Neben seinem
religiösen Kurs ist selbsterklärtes Ziel des Premierministers, Indien bis 2047
zu einer Industrienation zu transformieren. In den vergangenen Jahren ist
die derzeit fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt rasant gewachsen –
Schätzungen zufolge allein um etwa acht Prozent im letzten
Haushaltsjahr. Modi will Indien zur Nummer drei der Welt machen – und damit an
Deutschland vorbeiziehen. Dafür braucht er einen erneuten Wahlsieg.

Doch
die boomende Wirtschaft macht sich vor allem in den Metropolen
bemerkbar, auf dem Land kommt davon wenig an. Auch bereitet der jüngste
Inflationsanstieg vielen im Land Sorge.

Modi kam 2014 unter anderem mit dem Versprechen ins Amt, Millionen von Arbeitsplätzen für die Jugend zu schaffen, hat dies aber weitgehend nicht eingehalten. So verhielt es sich auch mit dem Versprechen, das Einkommen der Landwirte bis 2022 zu verdoppeln. Die Bauern zwangen Modi 2021 schließlich mit Protesten dazu, drei Gesetze zur Agrarreform zurückzunehmen – es war eine seiner seltenen politischen Kehrtwenden.

Modi und seine BJP versuchten, zunehmend Frauen zur Wahl der Partei zu überzeugen. So vergaben sie unter anderem Geldgeschenke oder Vergünstigungen an Frauen, etwa für den Haushalt. 

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Wie steht es um die Demokratie in Indien?

Indien gilt zwar als größte Demokratie der Welt, schneidet in Demokratieindizes wie dem des Economist
jedoch zunehmend schlechter ab. Zugleich wird Modis Führungsstil
von vielen unterstützt. „Ich denke groß, träume groß und agiere groß„,
lautet ein Motto Modis. In einer kürzlich veröffentlichten schwedischen Studie
des International Institute for Democracy and Electoral Assistance hieß
es, es gebe in Indien eine relativ hohe Unterstützung für eine starke
Führungspersönlichkeit, die sich „nicht um ein Parlament oder Wahlen
kümmern muss“.

Die Opposition wirft Modi zudem vor,
Regierungsbehörden für seine politischen Zwecke zu missbrauchen. In den
vergangenen zehn Jahren kamen fast 150 Oppositionspolitiker in den Verdacht
der Geldwäsche. Sie wurden von den Behörden vorgeladen, befragt,
durchsucht oder verhaftet. 

Im gleichen Zeitraum wurde gegen weniger als zehn Politiker der Regierungspartei ermittelt. Der
bekannteste Fall war die Verhaftung des Ministerpräsidenten von Delhi,
Arvind Kejriwal, einem hochrangigen Oppositionspolitiker. Er bestritt
jegliche Korruption. Zwischenzeitlich wurde er aus der Haft entlassen, um an der Wahl teilnehmen zu können. Vor seiner Rückkehr ins Gefängnis sagte er: „Wenn die Macht zur Diktatur wird, dann ist eine Haftstrafe ein Zeichen von Verantwortung.“

Mit Material der Nachrichtenagenturen AP, AFP, dpa und Reuters

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