Indien | Abfall-Hauptstadt welcher Welt: Wie die Menschen im indischen Panipat an Nylon ersticken
Die Luft in den Recycling-Fabriken ist voller Fusseln, die im Licht schimmern, bevor sie sich wie ein Film aus dreckigem Schnee überall absetzen. An ihrem Arbeitsplatz schneidet die 27-jährige Neerma Devi Ärmel auseinander und stopft die Fetzen von Altkleidern in eine dröhnend laute Maschine. Jeder Schnitt lässt Wolken aus Stoffresten im Raum aufsteigen. Die junge Frau hat sich das Gesicht mit Tüchern umwickelt, um das Einatmen der Fasern zu verhindern. Aber das helfe wenig, meint sie. Am Ende der Schicht schmerze ihr Brustkorb, manchmal könne sie nachts kaum atmen.
Diese erstickende Welt ist das Rückgrat eines weltweiten Geschäfts. Die nordindische Stadt Panipat gilt als „Abfall-Hauptstadt der Welt“. Ausrangierte Kleidung aus Europa, Nordamerika und Ostasien wird hier von Tausenden Arbeiterinnen und Arbeitern zerkleinert, wieder zu Garn versponnen, zu Teppichen, Bettlaken und Kissen verarbeitet – und geht zurück in die Welt.
Angelockt von sicherer Fabrikarbeit verließ Neerma Devi vor sechs Jahren das 300 Meilen entfernte Hardoi und kam mit ihrem Mann nach Panipat. Heute arbeitet sie sechs Tage pro Woche. Oft bringt sie ihre beiden kleinen Söhne mit in die Fabrik, weil der Eigentümer keine Kinderbetreuung anbietet. Devi hustet noch, wenn ihr Arbeitstag lange vorbei ist. Der Arzt sage ihr, das käme vom Staub, den sie jeden Tag einatme, erzählt sie. „Er meint auch, ich müsse diese Arbeit aufgeben, aber das kann ich mir nicht leisten.“
Warum es gefährlich ist, Mikrofasern ausgesetzt zu sein – vor allem Nylon
Panipat recycelt pro Jahr mehr als eine Million Tonnen Textilabfall, der andernfalls weltweit auf Müll-Deponien landen würde. Wenn die Lieferungen eintreffen, wird die Kleidung zunächst sortiert. Was noch tragbar ist, kommt auf die lokalen Märkte, während der Großteil geschreddert und wieder zu Garn versponnen wird. Man bleicht die Fasern, färbt und verarbeitet sie zu Heimtextilien, die weltweit Abnehmer finden. „Alle Arten von Materialien – von Polyesterhosen bis hin zu Baumwollhemden – werden zu ‚Shoddy-Garn‘ zerkleinert“, erklärt Ina Bharguna, Programmmanagerin bei Reverse Resources mit Sitz in Estland, einem Unternehmen, das an Textilabfällen bestens verdient. „Was wir bekommen, ist nie frei von Mikroplastik.“
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Internationale Untersuchungen zeigen, dass es gefährlich ist, längere Zeit Mikrofasern ausgesetzt zu sein, besondere Nylon. Es beeinträchtigt die Reparatur von Epithelzellen der Atemwege und stelle ein ernsthaftes Risiko für das Lungengewebe dar. Eine Studie der University of Technology in Sydney kommt zu dem Schluss, dass inhalierte Mikroplastikteilchen tief in die Atemwege eindringen und zu Krankheiten wie Asthma, Fibrose und der chronischen Lungenkrankheit COPD führen. Die Betroffenen hätten oft Jahre in Textilfabriken verbracht, sodass sich Mikrofasern in ihren Lungen festsetzen konnten.
Viele Fälle von Tuberkolose
Devis Schwiegervater war der Erste aus der Familie, der nach Panipat zog. Er hat fast 20 Jahre in einer der Fabriken gearbeitet und leidet heute an COPD. Seine Lungen sind derart geschädigt, dass selbst das Essen zum Ersticken oder großen Schmerzen führen kann. Die Ärzte im örtlichen Krankenhaus haben der Familie gesagt, dies sei unumkehrbar. Devis Mann, Kailash Kumar, beschreibt die Räume seines Betriebes als „einzige Qual“.
Es gäbe so gut wie keine Luftzirkulation. „Es fehlen Masken und Installationen für die Zufuhr von Frischluft.“ Ein Arzt, der viele Tuberkulosefälle behandelt und anonym bleiben möchte, spricht von „einer alarmierenden Häufigkeit bei Lungenerkrankungen. Die meisten meiner Patienten haben jahrelang täglich Staub, Fasern und Chemikalien eingeatmet. Die daraus resultierenden Erkrankungen werden nie richtig diagnostiziert, geschweige denn behandelt. Die Umstände machen die Menschen anfälliger – nicht nur für Tuberkulose, auch für schwere chronische Lungenerkrankungen“.
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Ramesh Chawdhary, ein hochrangiger Beamter im Arbeitsministerium des Bundesstaates Haryana, bestätigt, wie prekär die Bedingungen in vielen Fabriken sind. „Vieles ist unerträglich. Wir haben es regelmäßig mit Atemwegsproblemen, mit Hautinfektionen und sogar Krebs zu tun – und das trotz der Arbeitsschutzmaßnahmen, die es durchaus gibt. Nur legen die meisten Fabrikbesitzer keinen Wert auf die Sicherheit ihrer Arbeiter. Noch höher als beim Recycling ist das Risiko in Bleichereien und Färbereien, wo die Arbeiter Chemikalien wie Schwefelsäure ausgesetzt sein können.
„Ein bisschen Husten und Schnupfen“
Das Management der Fabrik, in der Devi arbeitet, weist Bedenken hinsichtlich der Umwelt zurück. „Wir verwenden hier keine Chemikalien – es handelt sich lediglich um Staub und Flusen. Ein bisschen Husten und Schnupfen sind da ganz normal“, heißt es. Außerdem würden Masken zur Verfügung gestellt, die aber von den meisten Arbeitern nicht getragen würden. Sie hätten das Gefühl, darunter zu ersticken.
Die Gefahren für die Gesundheit beschränken sich nicht auf all jene, die in den Recycling-Fabriken arbeiten. Am Stadtrand von Panipat bedienen Dutzende von Anlagen das wachsende Bedürfnis, Textilabfälle zu bleichen, bevor sie zerkleinert und zu Garn verarbeitet werden. Die Stadt spricht von gut 400 registrierten Bleichereien, hinzu kämen mindestens 200 Betriebe, die illegal betrieben würden. Vier Fünftel der anfallenden Abwässer verschmutzen das Oberflächen- und Grundwasser. Nach offiziellen Angaben gibt es 80 Stellen der Abwassereinleitung, die direkt mit dem „Drain Nr. 2“ in Verbindung stehen, einem Industriekanal, der in den Yamuna-Fluss mündet und erheblich zu dessen Schadstoffbelastung beiträgt.
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Im April ergaben Labortests der Umweltschutzbehörde des Bundesstaates Schadstoffwerte, die weit über dem lagen, was die zentrale Umweltschutzbehörde als zulässig eingestuft hat. Wasserproben aus dem Kanal enthielten fast das Vierfache des erlaubten Gehalts an gelösten Feststoffen und wiesen einen kritisch niedrigen Sauerstoffgehalt auf. Das Fazit: Wassertiere könnten unter diesen Bedingungen nicht überleben.
Manche Unternehmen lassen Gruben anlegen, damit kontaminiertes Wasser in die Erde sickert. Schon 2022 ergaben Untersuchungen, dass dadurch Mangan, Blei, Nitrat und Fluoride sowie an vielen Stellen Schwermetalle wie Cadmium, Nickel, Zink und Kupfer das Grundwasser der Stadt Panipat verunreinigen. Nitin Arora, Präsident der Färber-Vereinigung, bestreitet das und erklärt: „Die staatlichen Behörden haben derart strenge Vorschriften erlassen, dass niemand einen Betrieb führen kann, der sich daran hält.“
Unterdessen hat Hartej Singh, der in einem Dorf in der Nähe von Panipat wohnt, seinen Brunnen stillgelegt, nachdem er entdeckt hatte, dass man das Grundwasser nicht mehr trinken kann, ohne die Gesundheit zu gefährden. „Hier ist Wasser unser größter Fluch. Alle Brunnen in der Nähe dieses Industriekanals sind verloren. Die Leute werden krank, und die Krankheiten breiten sich aus.“ Dorfbewohner der Gegend hätten mit Hautproblemen zu kämpfen, wenn sie mit dem kontaminierten Wasser in Verbindung kämen. Es treten Ekzeme besonders bei Frauen und Kindern auf, die Wäsche waschen oder Wasser holen.
31 von 32 Bleichereien werden ohne offizielle Genehmigung betrieben
Der Umweltschützer Varun Gulati hat die Behörden aufgefordert, gegen die gewissenlose Verschmutzung in Panipat vorzugehen. „Das Wasser wird praktisch nie gereinigt. Aufbereitungsanlagen sind eine Seltenheit.“ Die zuständigen Instanzen des Bundes- wie Zentralstaates haben sich bisher nur besorgt über die illegalen Betriebe in Panipat geäußert, die unbehandelte Abfälle in das Wassersystem der Stadt leiten. Das National Green Tribunal, das den Zustand der Umwelt überwachen soll, hat im August festgestellt, dass 31 von 32 Bleichereien ohne offizielle Genehmigung betrieben wurden und deren Schließung angeordnet. Doch hinterließen solche Urteile wenig Wirkung, beklagt Gulati. „In den vergangenen fünf Jahren wurden 150 Beschlüsse dieser Art verkündet. Geschlossen werden diese Firmen bestenfalls vorübergehend. Die wenigen Behördenmitarbeiter kommen nicht hinterher. Bleichereien, die geschlossen werden, tauchen unter einem anderen Namen wieder auf.“
Von den fünf Milliarden Rupien (48,6 Milliarden Euro), die landesweit als Strafen für Umweltsünden verhängt wurden, konnten nur 3,7 Milliarden eingetrieben werden. Im März nannte Premier Narendra Modi die Stadt Panipat „ein globales Zentrum des Textil-Recyclings“. Was er nicht erwähnte: Die Kosten für diesen Nimbus sind in die Körper der Arbeiter eingebrannt. „Es erschreckt, daran zu denken, dass wir wie mein Schwiegervater enden können“, sagt Devi. „Aber momentan ist diese Arbeit die einzige Möglichkeit, um zu überleben.“
Anuj Behal ist ein indischer Journalist, der über urbane Planungen und deren Folgen schreibt Übersetzung: Carola Torti