„In jener Filmbranche gibt es manchmal Ressentiments gegen dasjenige Alter oder dasjenige Geschlecht“

Sie machte „Die Zweiflers“, „Marzahn Mon Amour“ und jetzt den Mehrteiler „Mozart/Mozart“. Clara Zoë My-Linh von Arnim ist eine der gefragtesten Regisseurinnen Deutschlands. Für junge Frauen hat sie einen Tipp.

Als Erstes fallen ihre Nägel auf. Silbernes Chrome, zu Krallen geformt. Es überrascht nicht, dass jemand mit solchen Nägeln, die sie selbst als „Waffen“ bezeichnet, Einhörner mag, jene zwischen Verletzlichkeit und Stärke changierenden Fabelwesen.

Die „Einhorn“-Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam hat Clara Zoë My-Linh von Arnim als Treffpunkt vorgeschlagen. Fantasy sei der Grund, warum sie Filme machen wollte. Regisseure wie Guillermo del Toro und Hayao Miyazaki hätten sie beeinflusst. „Vielleicht kann ich irgendwann ein tolles Fantasy-Epos verfilmen. Was die Kultur an Welten und Realitätsfluchten schaffen kann, diese absolute Freiheit, das finde ich den Wahnsinn.“

Am Tag zuvor hat von Arnim eine Drehbuchfassung abgegeben, in der es unter anderem um ein Mädchen geht, das denkt, sie wäre ein Drache. „Ist es nicht spannend, dass solche Fabelwesen in eigentlich allen Kulturen auftauchen?“ Sie findet es beruhigend, dass es Teile der Welt gebe, die noch unerforscht seien.

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Von Arnim spricht ruhig und bedächtig, hält vor jedem Kunstwerk inne, liest aufmerksam die Begleittexte, lobt immer wieder das Licht, das die Bilder ausstrahlen. Als wären sie selbst von innen beleuchtet. „Das Kino ist eine Königsdisziplin. Es benutzt Bilder, Musik, Sprache, Licht, Bewegung und Spieler. Man hat unendliche Möglichkeiten.“

Mit 14 habe sie einmal ein Kinderbuch mit Illustrationen von Fabelwesen, das ihrem kleinen Bruder gehörte, zu einer Party mitgebracht, weil sie dachte, dass die anderen Kinder das bestimmt auch alle so cool finden würden wie sie. „Auf der Party gab es aber schon den ersten Alkohol und eine Disco. Und niemand hat sich für mein Märchenbuch interessiert. Dann habe ich meinen Großvater angerufen, und er hat mich abgeholt.“ Zu dem hatte sie ein sehr enges Verhältnis, immer wieder spricht sie an diesem Nachmittag von ihm, erzählt Anekdoten, führt ihren Blick auf die Welt auf ihn zurück. Auch ihr Interesse für Magie und für das Erfinden, denn mit ihrem Großvater hat sie sich Geschichten über Kobolde und Zwerge erzählt.

Wenn man an die Regisseurin von Arnim denkt, hat man eher realistische Bilder im Kopf: Ihre Mini-Serie „Die Zweiflers“ über eine jüdische Frankfurter Familie, bei der von Arnim gemeinsam mit Anja Marquardt Regie führte, wurde mit Preisen überschüttet, gewann in Cannes, beim Deutschen Fernsehpreis, beim Grimme-Preis. Es folgte die von der Kritik gefeierte Serie „Marzahn Mon Amour“ über eine Fußpflegerin im Berliner Osten. Die feministische, fiktional-historische Musik-Serie „Mozart/Mozart“ über die vergessene Schwester des Genies ist gerade zu sehen. Nächstes Jahr beginnen die Dreharbeiten für die Romanadaption „Herkunft“ nach Saša Stanišić, ihr erster Kinofilm. Die 31-Jährige ist innerhalb weniger Jahre zu einer der gefragtesten Regisseurinnen Deutschlands aufgestiegen.

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Man traut ihr einiges zu – auch, von Menschen zu erzählen, mit denen sie auf den ersten Blick vielleicht nur wenig gemeinsam hat. Sie selbst hat keine jüdische Familie wie die „Zweiflers“, kommt weder aus Ostdeutschland wie die Menschen in „Marzahn Mon Amour“ noch aus Bosnien wie der Held aus „Herkunft“. Aber sie recherchiert. Und reist an die Orte, an denen sie dreht, lange bevor die Dreharbeiten beginnen. Und das eine Thema, das viele ihrer Projekte verbindet, das gibt es auch: intergenerationelle Traumata.

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Da schöpft sie dann doch auch aus eigener Erfahrung: „Mein Vater war 15 Jahre alt, als er mit seiner Familie aus Vietnam in die Schweiz geflohen ist wegen des Krieges. Ich habe das natürlich nicht selbst erlebt, aber Vergangenheit ist präsent, sie wird über Generationen weitergegeben. Darum ging es mitunter auch in den ‚Zweiflers‘. Als David Hadda, der Erfinder der Serie, und ich das erste Mal sprachen, da ging es zuerst um das Essen in unseren Familien, um die Sprache, um den Umgang mit unseren Großmüttern. Und damit ging es auch um die Frage von Identität. Ich bin selbst in Deutschland geboren und nicht in Vietnam – was bleibt denn zurück vom Vietnamesisch-Sein? Ist es das Essen? Die Sprache? Der Glaube?“

Regie als „Spinne im Netz“

Von Arnim, die den Nachnamen ihrer deutschen Mutter trägt, erzählt von ihrer engen Freundin Alison Kuhn, die ebenfalls eine junge erfolgreiche Regisseurin ist und ebenfalls Halbvietnamesin. Die Frage, ob das Zufall sein kann, wiegelt sie mit einer Handbewegung ab: „Wir sind beide, glaube ich, sehr fleißige Personen. Wir machen ganz unterschiedliche Sachen, die gar nichts oder nur wenig mit dem Vietnamesisch-Sein zu tun haben. An sich finde ich Pauschalisierungen immer schwierig.“

Aber hat sie einen anderen Blick auf die Welt durch ihren Hintergrund? „Ich glaube schon, in mehrfacher Hinsicht. Einerseits bin ich als Kind in einem Dorf in Oberbayern aufgewachsen, für andere war ich da von außen nicht so leicht zuzuordnen. Vielleicht habe ich dadurch auch einen differenzierteren Blick auf andere Menschen, die nicht so leicht zu kategorisieren sind.“

Von Arnims Blick auf ihre Figuren ist verträumt, einfühlsam, von großer Zartheit getragen. Visualität sei ihr wichtig, Relevanz, Empathie und emotionales Verständnis. „Ich baue darauf, dass Film äußere Attribute wie Herkunft und Klasse miterzählt, und ich mich darauf fokussieren kann, sie mit Empathie zu inszenieren.“ Das Tolle bei „Marzahn“ sei die Zusammenarbeit mit den Schauspielern gewesen, die ihre Großeltern hätten sein können. „Es hätte ja auch sein können, dass die sagen: Eine Regisseurin in dem Alter, die nicht aus dem Osten kommt, die muss sich jetzt erst mal beweisen. In der Filmbranche gibt es manchmal Ressentiments gegen das Alter oder das Geschlecht. Aber sie waren alle sehr freundlich, ich konnte sofort loslegen und musste mir nicht erst einmal eine männliche Autoritätsform aneignen, bevor ich respektiert wurde. Das war wirklich toll und auch berührend.“

Einen Erfolgstipp für junge Frauen, die Filme machen wollen, hat sie auch: „Ich habe für mich herausgefunden, dass ich, wenn ich als Regisseurin die Jüngste im Team bin, mit Transparenz in den Raum gehe und gleich sage: Wenn wir es überspringen, dass ich mir erst einmal Respekt erarbeiten muss, dann können wir viel schneller zum Ziel kommen.“

Von Arnim wuchs in München auf, machte dort die ersten Praktika beim Film, zog mit 19 Jahren nach Hamburg, weil ihr München zu eng wurde. Ein Jahr arbeitete sie dort in einem Sushi-Lokal, während sie sich auf die Filmschule vorbereitete. Obwohl sie schon immer wusste, dass sie Filme machen wollte, schrieb sie sich zunächst in Berlin für Jura an der Humboldt-Universität ein: „Ich dachte, sicheres Einkommen und so“.

Denn bei ihnen zu Hause war Geld nicht immer selbstverständlich. Sie habe auch die schlechte Angewohnheit, wenn Leute ihr Komplimente zu ihrer Kleidung machen, ihnen zu sagen, wie günstig sie es „geschossen habe“. „Weil ich immer stolz bin, dass ich so günstige Sachen finde. Meine vietnamesische Großmutter hatte auch die Angewohnheit, alles im Angebot zu kaufen. Wenn ich sehe, dass Häagen-Dazs-Eis nur 3,30 Euro kostet, schreibe ich sogar Leuten, um sie darauf hinzuweisen.“ Heute trägt von Arnim elegantes Schwarz: Die langen Haare liegen offen über dem Blazer, darunter eine Bluse mit V-Ausschnitt und ornamentalem Muster, das gut zu den opulenten Wandteppichen im Hintergrund passt.

Wir laufen an nackten Jungfrauen vorbei, an Narwalzähnen und sogar einem ausgestopften, elektrisch erwärmten Pferd mit Horn. „Wahnsinn“, staunt von Arnim. „Irre.“ Und: „Dieses Licht!“. Auf einer Texttafel heißt es, dass Einhörner für Angriffslust und Stärke stehen. Ob sie sich für Einhörner interessiert, weil sie selbst eine Einzelkämpferin ist? „Dafür ist Film viel zu sehr Teamwork. Das kann man gar nicht allein machen. Regie ist wie eine Spinne im Netz, die alles zusammenführt. Film ist immer größer als eine Person. Es kommen ganz viele Leute zusammen, die so gut sind in dem, was sie machen, es gibt so viel zu tun und jeder Teil ist wichtig. Bei historischen Projekten wie ‚Mozart/Mozart‘ gibt es zum Beispiel Personen, die angestellt waren, um Kleidung alt aussehen zu lassen. Zu patinieren.“

Nach der Ausstellung will von Arnim noch in den Museumsshop. Dort kauft sie eine Ausgabe des aus frühchristlicher Zeit stammenden „Physiologus“, ein antiker Klassiker über die Symbolik von Tieren. Sachbücher liest sie neben Fantasyromanen und zeitgenössischer Literatur gern, zuletzt zum Beispiel „Sind Flüsse Lebewesen?“ von Robert MacFarlane.

Im Café bestellt sie eine Gurkenlimonade und einen Cappuccino und erzählt von den nächsten Reiseplänen, die bald anstehen. Diesmal nicht zur Recherche, sondern zu Silvester nach Japan, mit ihrem Freund, vielleicht besuchen sie das Studio-Ghibli-Museum, gewidmet einer Legende des Animationsfilms. Sie selbst hat eine große Neugier für Kinderbücher und -filme. „Vor ‚Marzahn‘ habe ich gesagt, dass ich am liebsten mit Kindern drehe, und nach ‚Marzahn‘, dass ich am liebsten mit Leuten über 80 drehe – Aber bei ‚Mozart/Mozart‘ hatten wir jetzt alle Altersgruppen, und das war auch toll.“

Source: welt.de